1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Für den Fall, dass SAA meinen Fund verlor, hatte ich in mühsamer Arbeit ein Häufchen von Holzspänen und einige Krümel des Lacks von der Bruchstelle abgeraspelt oder abgestemmt. Ich verwahrte die Proben in einem kleinen Plastikbeutel in der rechten Sakkoinnentasche. Damit sollten wenigstens ein paar chemische Analysen möglich sein. Aber SAA verlor die Fluke nicht, und ich vertraute sie Laxmi, die mich morgens um halb acht in Heathrow abholte, zur Untersuchung an.
Das erste Ergebnis lag sehr bald vor: Der Nixenschwanz war aus Eichenholz geschnitzt. Eine Altersbestimmung mittels der C14–Methode, wofür meine Späne genügten, ergab eine Woche später, dass das Holz aus den Jahren 1591 bis 1620 stammte.
Laxmi erklärte mir, dass man mittels eines anderen Datierungsverfahrens mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur das exakte Jahr, in dem die Eiche gefällt worden war, sondern auch ihren Herkunftsort feststellen konnte. Die sogenannte Dendrochronologie beruhte auf der Tatsache, dass man an den Jahresringen der Bäume ablesen konnte, welche Witterung während ihrer Lebenszeit geherrscht hatte. In feuchten und warmen Jahren entstanden üppig breite, in dürren oder zu kühlen Jahren verhungert schmale Jahresringe. Da sämtliche Buchen, Eichen oder Pappeln eines bestimmten Gebietes annähernd identischen Lebensbedingungen ausgesetzt waren, ließ sich bei allen diesen Bäumen das gleiche charakteristische Muster von breiten und schmalen Ringen finden. Es war eine Art natürlichen Strichcodes, ein unverwechselbarer Fingerabdruck der Region.
Wissenschaftler hatten für einige Baumarten fast lückenlose Jahresringmuster in ihren Datenbanken, die – wie beispielsweise die »mitteleuropäische Eichenchronologie« – unglaubliche zehntausend Jahre zurückreichten. Diese Datensammlungen konnten aus den erwähnten Gründen Auskunft darüber geben, ob eine Eiche in den englischen Cotswolds, im Bayerischen Wald oder in den Ardennen gestanden hatte. Sehr wahrscheinlich fiel die Datierung mithilfe der Dendrochronologie viel genauer aus als mit der C14–Methode.
Das Problem war, dass man für die Herkunfts– und Altersanalyse eine dünne Baumscheibe oder einen Bohrkern benötigte. Bevor Laxmi aber ein Stück von dem Meerjungfrauentorso absägen konnte, musste sie die Beschichtung enträtseln, und das war weitaus schwieriger als erwartet. Sechs Kunststofflabors hatten zwei völlig gegensätzliche Beurteilungen geschickt – und vier Absagen. Die Institute hatten mitgeteilt, dass ihnen diese Art Plastik unbekannt war.
In ihrer Ratlosigkeit hatte Laxmi eine letzte Probe an einen weltberühmten organischen Chemiker und Polymerisationsexperten der University Oxford geschickt, den sie von Tagungen her persönlich kannte.
Bei der forensischen Untersuchung der Bruchstelle im Fischschwanz der Meerjungfrau hatte sich herausgestellt, dass der Rücken der Figur sehr wahrscheinlich auf ganzer Länge durch Nut und Feder mit dem Schiffsbug verbunden gewesen war und nur der gewundene letzte Teil des Nixenrumpfes und die Fluke frei abgestanden hatten. Der einstmals mit Blattgold verzierte und in verschiedenen Grün– und Blautönen bemalte Leib war exakt am Ende der Verkeilung mit dem Kiel gebrochen. Ein paar Millimeter der Feder waren erhalten.
Neben der mechanischen Belastung durch Wellen und Wind hatten starke Fraßschäden durch Holzschädlinge zu der Fraktur beigetragen. Die Kerbtiere – oder vielmehr ihre Larven – hatten die exponierte Stelle löchrig wie Schweizer Käse und mürbe wie Knäckebrot gemacht. Anhand des »Schadbildes« sowie Form und Größe der Ausschlupflöcher hatte Laxmi drei »schuldige« Insektenarten zweifelsfrei identifizieren können: Den großen Eichenbock, den bunten Nagekäfer und den gewöhnlichen Werftkäfer.
Sie war wirklich gut! Sie liebte die Perfektion, ganz wie Maharaja Sawai Jai Singh II!
Es gab Spuren, die darauf hindeuteten, dass man wohl schon vor längerer Zeit – möglicherweise waren es Jahrhunderte – den Schwachpunkt erkannt und versucht hatte, die freistehende Partie der Galionsfigur zu stabilisieren. Dazu hatte man ihr oberhalb und unterhalb der späteren Bruchstelle je einen Ring aus Schmiedeeisen angelegt und beide mit Eisenstäben verbunden. Röntgenbilder hatten gezeigt, dass eine Handbreit von der Bruchstelle die Schäfte von vier geschmiedeten Dreikantnägeln aus Eisen im Holz steckten. Vermutlich war das Korsett sehr bald vom Salzrost zerfressen worden und abgefallen.
Die Kunststoffhülle hatte trotz ihrer Widerstandskraft den Verlust der Nixenfluke nicht verhindern können, weil sie ausgerechnet in der Problemzone zu dünn und teilweise unvollständig war. Ein Großteil der flüssig aufgetragenen Schutzschicht war nämlich in den Bohrkäfergängen versickert und hatte so keinen Panzer auf der Außenhaut bilden können.
Laxmi wollte nach Möglichkeit abklären, wie lange die Fluke schon im Wasser getrieben hatte, als sie ins Netz der »Starina« geriet. Aber auch das sei erst möglich, sagte sie, wenn die Art des Überzugs enträtselt sei.
Das Warten auf das Urteil des Professors zerrte an meinen Nerven. Was konnten wir tun, wenn auch er überfragt war? Nachrichten von Hogg beunruhigten mich zusätzlich. Dem kugelrunden Kollegen war offenbar ein Coup geglückt. Eine von Laxmis Freundinnen aus Rajasthan, die – natürlich rein zufällig – bei WW&W arbeitete, hatte berichtet, Hoggs Jacht habe im fraglichen Seegebiet um ein Haar einen Container gerammt, der dicht unter der Wasseroberfläche getrieben sei. Hogg habe ihn bergen lassen, und es habe sich erwiesen, dass er nicht zur Ladung der »Palermo Express« gehört habe, sondern von einem anderen Frachter stammte. Hatte sich doch eine Kollision ereignet?
Ich wusste nicht, welche Fortschritte Hogg bei der Identifizierung des anderen Containerschiffs gemacht hatte. Eigentlich war das ein Kinderspiel, denn jede der Stahlkisten trug an der Tür, oft auch an der Seitenwand, eine sechsstellige Registriernummer, der eine »Prüfziffer« folgte, die mittels eines überraschend komplizierten Verfahrens errechnet worden war.
Dazu kam ein »Eigentümerschlüssel« und ein »Produktgruppenschlüssel«, die aus Buchstaben bestanden. Alles zusammen ergab ein weltweit einmaliges, unverwechselbares Kennzeichen. Mithilfe dieses »Personalausweises« wusste man stets, welcher Container wann wo war – natürlich auch, auf welchem Schiff. Sollte der zweite Frachter ebenfalls verschwunden sein, hatte der Dicke den Fall fast schon gelöst.
Eigentlich war es so gut wie unmöglich, dass ein Containerriese von den Dimensionen der »Palermo Express« oder irgendein anderer großer Pott, der ihr bei einer Kollision hätte gefährlich werden können, abhanden kam, ohne dass ich davon erfuhr. Denn ich las jeden Morgen »Lloyds List«. Das Blatt, das vor 270 Jahren im Londoner Kaffeehaus des Edward Lloyd aus der Taufe gehoben worden war, war mein Brevier. Es brachte nicht nur Schiffsmeldungen aus rund 1500 Häfen; es listete im Rahmen des »Lloyds Casuality Reporting Service« auch jede Havarie und jeden Untergang ernstzunehmender Schiffe weltweit auf. Wenn ich unterwegs war, bekam ich die wichtigsten Daten aus der Zeitung per Mail zugeschickt. Zuerst immer den Unfallbericht.
Aber ich war dennoch nervös. Es gab nichts, das es nicht gab, und man hatte schon Pferde kotzen sehen. Ich wäre ruhiger gewesen, wenn ich mehr zu bieten gehabt hätte. Aber womit konnte ich aufwarten? Mit nichts! Ich hatte nichts in der Hand als das Schwanzstück einer Schnitzerei, die um 1600 entstanden war, aber in einer modernen Plastikhülle steckte, die niemand analysieren konnte. Mit dem Containerriesen, den ich suchte, hatte die Fluke der Meerlady wahrscheinlich nicht das Geringste zu tun. Oder besser: Sehr wahrscheinlich. Es war ein Trauerspiel.
Wie immer schaffte es Laxmi, mir den Kopf zurechtzurücken. Nach der Liebe lagen wir uns in ihrem Bett in den Armen, genau observiert von dem zufrieden schnurrenden Admiral Nelson. Meine Prinzessin fühlte, dass meine Gedanken nur allzu bald wieder zur »Palermo Express« abzudriften begannen. Obwohl kastriert, war Nelson mehr bei der Sache als ich. »Glaube an deine Fähigkeiten, an deinen siebten Sinn und an Ganesha, Jim«, flüsterte Laxmi zärtlich. »Er hilft eigentlich immer. Aber er stellt Menschen gern ein wenig auf die Probe. Er will sehen, ob du seiner Unterstützung würdig bist.«
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