Ortwin Ramadan
Die Hafenpiraten und das Geisterschiff
Mit Illustrationen von Gerhard Schröder
Noch ahnten wir nichts. Es war ein ganz normaler Ferientag. Yuki und ich turnten gerade auf dem morschen Steg herum und befestigten ein neues Segel auf unserem Piratenfloß, als Timur aufgeregt in den Hafen gerast kam.
»Hey, Leute!«, rief er schon von Weitem. Er bretterte auf den Steg und sprang noch im Fahren aus dem Sattel. Sein Fahrrad krachte auf die verwitterten Holzbohlen.
»Ich habe schlechte Nachrichten«, keuchte Black Jack atemlos. »Die Wikinger planen was. Ganz sicher!«
»Na und?«, sagte ich, während ich noch immer mit dem steifen Segelstoff kämpfte. »Hubert plant doch immer was gegen uns. Das ist nichts Neues.«
In diesem Moment löste sich das neue Segel wieder von der Querstange und begrub Yuki und mich unter sich. Genervt strampelten wir uns frei und starteten einen neuen Versuch.
»Diesmal ist es anders«, sagte Timur entschieden. Unser kleines Missgeschick beachtete er gar nicht. »Haltet euch fest: Die Wikinger haben ein neues Schiff gebaut!«
Ich erstarrte. Das änderte die Dinge natürlich schlagartig! Hubert hatte sich mit seiner Bande schon länger nicht mehr auf unserer Flussseite blicken lassen, und wir hatten uns ehrlich gesagt schon gewundert. Jetzt kannten wir den Grund!
»Sicher, dass das nicht nur wieder ein Gerücht ist?«, fragte ich.
Aber Timur machte meine leise Hoffnung sofort zunichte. Er schüttelte den Kopf.
»Leider nicht! Hubert hockt gerade in der Eisdiele am Markt und prahlt mit seinem neuen Superschiff. Ein echtes Drachenboot! Und wisst ihr, wie er es nennt?«
Yuki und ich zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Ich kam mir vor wie ein dämlicher Synchronschwimmer. Wenigstens schien das Segel jetzt zu halten.
» Die Piratenkillerlady !«, stieß Timur hervor.
Ich sah ihn entsetzt an. Dagegen kam unsere Albatros nicht an. Yuki dagegen schien geradezu erleichtert.
»Pah, das heißt doch gar nichts«, winkte sie lässig ab. »Die Wikinger haben uns in der letzten Zeit in Ruhe gelassen. Vielleicht haben sie gar keine Lust mehr, uns zu ärgern.«
Na klar, und ich werde morgen der Oberpräsident aller Piraten! In solchen Dingen hatte Yuki einfach null Peil. Yuki ist das jüngste Mitglied unserer Bande und kannte die Wikinger deshalb noch nicht so gut. Aber eins war sicher: Wenn die Hohlköpfe ein neues Schiff hatten, würden sie über uns herfallen. Das war eine Art Naturgesetz. Für Wikinger und Piraten zusammen war die Welt nun mal zu klein.
»Was schlägst du vor?«, fragte ich Timur.
Mein Kumpel schob sich das Piratenkopftuch aus der Stirn und machte ein ernstes Gesicht. »Wir müssen was unternehmen.«
Da stimmte ich ihm voll und ganz zu. Diese Nachricht bedeutete Ärger. Mächtigen Ärger sogar. Was wir jetzt brauchten, war eine zündende Idee.
»Wo ist eigentlich unser Professor?«, wunderte sich Timur.
Es war, als hätte er in dieser Sekunde den gleichen Gedanken gehabt wie ich.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Boogie sollte längst hier sein. Eigentlich wollte er Yuki und mir beim Anbringen des neuen Segels helfen.«
»Hoffentlich ist ihm nichts passiert!« Yuki klang besorgt.
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
»Na ja, vielleicht haben die Wikinger unseren Professor auf dem Weg in den Hafen abgefangen.«
Wir sahen uns schweigend an. Komisch war es schon. Sonst war Sir Francis immer pünktlich wie eine Atomuhr.
»Wenn die Vollidioten Boogie was angetan haben«, knurrte Timur wütend, »dann aktiviere ich meine Superkraft und statte ihnen einen Besuch ab. Darauf könnt ihr wetten!«
Im letzten Sommer haben wir einem Ritter von einem anderen Planeten aus der Patsche geholfen. Zum Dank hat er uns seine magische Kugel hinterlassen. Was sie so kostbar macht, ist nicht allein die Tatsache, dass sie von einem anderen Planeten stammt. Sie besitzt außerdem eine fantastische Eigenschaft: Sie erkennt verborgene Talente und multipliziert sie ins Unendliche.
Um die Kugel zu aktivieren, muss man sie nur in die Hand nehmen und dabei fest an sein ganz persönliches Talent denken. Und da eigentlich jeder Mensch eine besondere Fähigkeit hat, funktioniert sie auch bei jedem. Nur dass sie eben bei jedem Menschen eine andere Superkraft freisetzt. Ich kann mich durch die Kugel zum Beispiel unsichtbar machen.
Leider hielt die Wirkung bei jedem aber immer nur zwanzig Minuten an. Danach musste man mindestens doppelt so lange warten, bis sie wieder funktionierte. Das einzig Blöde war, dass wir unsere magische Kugel vor den Wikingern auf keinen Fall einsetzen durften. Wenn Hubert Wind davon bekommt, sind wir sie sofort los.
»He, langsam, langsam! Unsere Superkräfte müssen geheim bleiben, das weißt du doch!«, erinnerte ich Timur. »Auf so eine Gelegenheit wartet Hubert nur.«
»Ganz genau«, pflichtete Yuki mir bei. »Außerdem haben wir dem Sternenritter versprochen, die magische Kugel nur sinnvoll einzusetzen!«
»Aber das ist sinnvoll«, sagte Timur grimmig. Er ballte seine Faust. »Wehe, die Schwammköpfe haben Boogie auch nur ein Haar gekrümmt. Dann mache ich sie platt!«
Wie immer ging Timur vom Schlimmsten aus. Aber ganz unrecht hatte er diesmal nicht. Schließlich war Boogie der Jüngste von uns, und wenn sich Hubert mit seiner Bande auf unserer Flussseite herumtrieb, war Gefahr im Verzug. Also beschlossen wir, vorsichtshalber nach dem Rechten zu sehen.
Unser Professor wohnte mit seinen Eltern in einem kleinen Haus nicht weit vom Hafen entfernt. Mit unseren Fahrrädern brauchten Yuki, Timur und ich nur fünf Minuten. Wir lehnten unsere Räder gegen den Holzzaun, öffneten das quietschende Tor und durchquerten den wild wuchernden Garten. Boogies Adoptiveltern waren beide Lehrer und ziemlich ökomäßig drauf. Bei ihnen musste immer alles »biologisch« sein. Deshalb bauten sie natürlich auch ihr eigenes Gemüse an. Nett waren sie trotzdem. Ich meine, abgesehen davon, dass sie beide Lehrer waren. Aber dafür konnte Boogie ja nichts. So was war einfach Piratenpech.
Als wir vor der himmelblau lackierten Haustür mit vertrocknetem Strohkranz standen, schoben Timur und ich unsere Steuerfrau nach vorne. Yuki musste klingeln und sollte das Reden übernehmen, weil sie besser mit Boogies Eltern konnte, meinte Timur. Yuki tippte sich an die Stirn, aber dann drückte sie auf den omahaften Klingelknopf. Hinter der Tür zwitscherte es wie in einem Vogelkäfig.
Nachdem die Vogelklingel verstummt war, wollten wir es uns schon bequem machen. Bei Boogie dauerte es nämlich immer eine Ewigkeit, bis jemand aufmachte. Aber diesmal war es anders: Innerhalb weniger Sekunden riss Frau Haferkamp die Tür auf.
»Gott sei Dank!«, rief Boogies Mutter und warf theatralisch ihre Arme in die Höhe. »Gut, dass ihr da seid!«
Timur, Yuki und ich sahen uns verdattert an. Hatte Boogies Mutter beim Umgraben ihrer ungespritzten Gemüsebeete etwa zu viel Sonne abgekriegt?
»Äh, ist Boogie da?«, sagte Yuki schließlich zögerlich.
»Kommt doch herein!«, sagte Frau Haferkamp und schob uns ins Haus. »Boogie ist oben in seinem Zimmer. Er hat sich eingeschlossen und will nicht aufmachen. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll!«
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