»Gott sei dank, Sie sind da.« Joseph musste husten. Wieder diese totale Finsternis. Den Staub konnte er nicht sehen, aber schmecken.
»Hast du dir was getan?«
»Hab heut´ schon mehr auf den Kopf gekriegt.«
»Hör gut zu. Zieh dein Hemd über die Nase und fang sofort an, die Lampen zu suchen. Das muss jetzt schnell gehen.«
»Die laufen aus!« Erst jetzt erfasste Joseph den Ernst der Lage.
»Für einen Pferdejungen hast du einen schnellen Kopf. Such langsam und gründlich.«
Beide tasteten in der Dunkelheit umher. Längst war ihnen klar, dass sie sich auf der Strecke befanden, in die sich nun das Geröll aus dem Abbau über ihnen ausgebreitet hatte. Steiner folgte dem Schuttberg.
»Hier bin ich rein. Rechts und links von mir müsste also auf der Sohle noch eine Lampe sein. Da müssen wir ganz schön graben.«
»Ich rieche Öl.« Joseph kroch langsam voran. Die Ölflasche. Na bitte. Vorsichtig schütteln.
»Da ist noch was drin.«
Stein für Stein flog zur Seite. Steiner rechts und Joseph links vom Aufgang zum Abbau. Oder wo sie ihn vermuteten. Mutlosigkeit überkam Joseph. Wie lange suchten sie nun schon? Wenn man nur was sehen könnte, nur ein wenig Licht, einen schwachen Schein, nur ein kurzes Aufleuchten, um zu sehen, wo man suchte. Langsamer wurde die Suche.
»Lass uns einen Moment ausruhen. Jetzt ist längst das Öl aus den Lampen gelaufen. Und zum Glück hast du ja die Flasche gefunden.«
»Aber Übel ist´s jetzt doch, oder?«
»Ärgerlich. Aber uns geht´s gut. Da haben wir viel Glück gehabt. Ordentlichen Wetterzug haben wir auch. Das ist das Wichtigste. Bleib ganz ruhig.«
»Ich brauch aber Licht.«
»Mach die Augen zu, dann fehlt dir nichts.«
Linda wusste, dass nun wieder was fällig war. Das war ab und zu der Fall. Damit musste sie rechnen, wenn die Dinge, die ihrem Gehirn so blitzschnell einfielen, ebenso behände auch schon ihren Mund verlassen hatten.
Sicher, es war eine allgemein bekannte Tatsache, dass Patty Schnitzler sowohl übermäßig dick als auch ungeheuer dumm war. Patty vermied es seit Jahren, irgendetwas zu essen, was nicht bunt oder knisternd verpackt war, abgesehen vielleicht von Softeis und Pommes. Hemmungsloser ständiger Konsum von Deppensendern und die konsequente Weigerung, irgendetwas zu lesen, das nicht mit bunten Bildern garniert war, hatten genau die umgekehrte Wirkung hervorgerufen wie ihre Fressalien. Während sie außen immer dicker wurde, nahm innen drin ihr Verstand stetig ab. Irgendwann würde sie völlig hohl sein.
Dass Pat sich auf fett reimte, war für Lindas flinkes Mundwerk zu verführerisch gewesen.
Ungewollt holte Linda tief Luft, was sie aber umgehend bereute. Sie war auf dem Weg zum Sport und befand sich in den so genannten Katakomben unter der Turnhalle. Der Gestank nach Schweiß, Urin und Desinfektionsmitteln war typisch für diese Gänge zu den Toiletten, Duschen und Umkleideräumen.
Linda blieb stehen und schätzte ihre Chancen ein. Überall wäre sie Patty entkommen. Auch hier. Aber Patty hatte Freundinnen. Ein Haufen unsensibler Gören.
Noch nicht zu sehen. Doch zu hören. Die warteten nicht nur im nächsten Gang da vorne. Auch hinter ihr hörte sie Schritte und verhaltenes und doch schrilles Gelächter. Da stimmte man sich auf etwas ein. Was war jetzt fällig? Vorne und hinten Pats Party und rechts die Wand. Links zwei Türen. Ganz flink und leise verschwand Linda vom Gang.
Und war zum ersten Mal in der Umkleidekabine der Jungs.
Es war, als ob man ihr eine alte Socke über den Kopf gestreift hätte. Welch ein widerlicher Gestank. Egal. Laute schnelle Schritte auf dem Flur jetzt. Ihr Handy. Kein Empfang. Aber wen sollte sie auch anrufen. Nur weiter.
Dann die Rettung: Klotüren. Rein, zu und abschließen. Nein, bloß nicht abschließen. Fällt ja direkt auf. Deckel auf die Schüssel und hinsetzen. Füße hoch. Na bitte. Wenn´s drauf ankommt ist sie schnell, sagte Mama immer. Laute Linda schaltete um auf stille Maus.
Türenschlagen und aufgeregtes Gekicher. Patty gab den Ton an: Seid mal ruhig. Irgendwo hier. Stille. Schritte kamen näher.
»Dann mal los.« Unverkennbar Pattys Krötenquakstimme. Der Türgriff ging langsam, fast genüsslich, nach unten. Und sofort wieder hoch. Irgendwo schlug eine andere Tür.
»Hallo Mädels«.
Mannomann. Das war ein Junge. Klasse. Patty und ihre Prolltussies zogen schnell und erstaunlich leise ab. Linda atmete auf. Blieb aber eingefroren. Was jetzt kam, kannte sie nicht so genau. Sie erkannte es trotzdem sofort. Neben ihr pinkelte jemand. Im Stehen ! Jetzt furzte er auch noch, wobei er genüsslich grunzte.
»Das hab ich gehört.«
Noch ein Junge. Wo kam der denn her ?
»Was sein muss, muss sein.«
»Wenn du hier sonst nichts treibst.«
»Doch nicht allein.«
»Und was kam mir da gerade entgegen?«
»Keine Ahnung, was die hier wollten. Militanter Kindergarten auf geheimer Mission oder so.« Klospülung und Türenschlagen. Die beiden jetzt vor den Zellen.
»Alles klar für heute Nacht? Hast du´s gekriegt?«
»Hat gedauert, aber ich hab´s.«
»Na also, ohne geht´s halt nicht.«
»Hab´s direkt in Folie geschweißt. Soll ja nicht nass werden.«
Linda, kluges Kind, wusste sofort was da abging. Drogen. Das war was anderes als Patty Pudding. Das waren Leute, die irgendwas rauchten. Oder spritzten. Oder noch was anderes. Lindas stets sprungbereite Spontanfantasie lieferte sofort das Bild eines Geldscheins. Und eines weißen Pulvers. Und einer Nase.
Und das war ein Problem.
Wieder ein Bild in Lindas Kopf. Ein Kaninchen. So süß. Würde es nur nicht diese ständigen Bewegungen mit seinem Schnupperteil machen. Wie das juckte und kribbelte. Nur nicht niesen. Blitzschnell schaltete Linda auf ein Rettungsbild um. Ihre Augen weiteten sich. Das Rennpferd in der Startbox. Weit geblähte Nüstern.
Einmal noch atmen.
Das half.
Es half nicht.
Eine Tür fiel ins Schloss. Ein Gatter ging auf. Das Pferd rannte los. Linda nieste.
Genug gewartet. Jetzt aber raus hier. Lindas Lieblingswort war: los! Zurück blieb eine Schüssel mit beiden Deckeln drauf. Premiere da unten im Jungenklo.
Wie stark sie sich fühlte. Jetzt hatte sie wieder dieses Zeug entwickelt. Voller Adrenalin stapfte sie tapfer voran. Manchmal hatte sie eben auch Glück. Jetzt nur raus hier. Endlich die Türe nach draußen. Eigentlich mochte Linda den Sportunterricht, der heute für sie ausfallen würde. Man musste auch verzichten können. Dafür tat die frische Luft echt gut.
Den ersten Schlag hatte Patty sich selbst vorbehalten. Als Linda die Außentreppe hinaufgegangen war und um die Ecke bog, schlug sie zu.
Natürlich traf sie nicht. Adrenalin-Linda war für sie um Welten zu schnell. Und das nicht nur im Ausweichen. Kaum sauste Pattys Pummelarm ins Leere, traf sie auch schon Lindas Tasche in den Rücken. Auf der Tasche waren niedliche Hundewelpen abgebildet, die jeder einen etwas zu großen Knochen im Maul hatten.
Mit schrillem Schrei stolperte Patty die Treppe hinunter, wo sie unten mit einem satten Klatschen von der Tür gestoppt wurde.
Erstaunlich schnell war sie wieder auf den Beinen.
Und sie war nicht allein. Während Patty die Treppe heraufkeuchte, stand Linda oben, eingekreist von fünf weiteren Gören. Hier war nicht mehr viel zu holen. Jetzt war es wohl so weit. Hände zerrten an ihr, Schläge trafen sie. Instinktiv ging sie in die Hocke, Hände über den Kopf.
Linda so klein, Linda so allein.
Der Rucksack war schwer, und sein Wurf gut berechnet. Seine Flugbahn war kein Bogen. Wie eine riesige, unförmige Bowlingkugel schoss er knapp über dem Boden dahin. Mitten ins Knäuel der Mädchen.
Dort blieb niemand auf den Beinen. Er verfehlte nur die unten liegende Linda. Gestoppt wurde seine Bahn erst von Patty, die gerade die oberste Stufe erreicht hatte und dahin zurückkehrte, von wo sie sich erst soeben aufgerappelt hatte.
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