Joseph musste lächeln. Längst waren die meisten von damals auch unter Tage. Längst waren die Prügeleien jener frühen Jahre vergessen. Wenn man sich traf im Dorf oder bei der Arbeit in Wald und Feld, trafen sich alte Freunde, die alten Haldenjungen der Grube »Marie«. Irgendwie jedenfalls. Na ja, ein paar Hitzköpfe gab´s immer noch. Und er konnte den Kopf hoch tragen. Die »Fortuna« war die modernste Grube weit und breit. Die nahmen nicht jeden. Mit etwas Erfahrung hier als Pferdejunge konnte er vielleicht in ein Gedinge kommen, vielleicht sogar Hauer werden. Abzeichnen bei der Sprengstoffausgabe.
Lesen und Schreiben konnte er gut. »Ein heller Kopf«, hatte der Lehrer mal gesagt. Nur einmal, aber immerhin.
Max blieb stehen und schnaubte. Joseph lehnte sich an den riesigen Körper. Max drehte den Kopf. Süßer Pferdemaulgeruch. Ein großer Freund. Wie stolz war er, jetzt nicht loszuheulen.
Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt wie an diesem Morgen am Füllort. Als sei er ein Bündel nasser Wäsche, auf den Boden geklatscht und gleich wieder hochgehoben.
Wieder schnaubte das Pferd.
Langsam näherte sich das Licht einer Grubenlampe.
Gehorsam zog Max wieder an und furzte einige Liter Gas in die Strecke.
Joseph wusste, wer da unterwegs war. Der Steiger auf seinem Weg zu den Abbauen. Bloß nichts falsch machen. Immerhin traute man ihm schon zu, allein die Wagen zum Schacht zu fahren.
»Glückauf Herr Steiner.« Joseph erkannte den Mann mit der blankpolierten Messinglampe. Der Steiger. Das würde Fragen geben. Aber Max war in Ordnung, wie immer.
»Glückauf. Richard wartet am Schacht. Er wird Max für den Rest deiner Schicht übernehmen. Sag dem Anschläger, dass du vor der Seilfahrt ausfahren darfst. Warte in meinem Büro.«
»Es war nicht meine Schuld, ich wollte ihn nicht ärgern.« Joseph wusste kaum was er sagte. Sein Verdienst wurde gebraucht. Weg von »Fortuna«, Abkehr mit siebzehn Jahren nur wegen einer dummen Bemerkung. Was sollte nun werden?
»Stimmt was nicht?«
»Am Schacht, ich meine..«
»Gut beieinander, der Gaul. Richard versteht´s mit den Pferden. Nimm deinen Beutel mit ins Büro und ess dort was. Wenn wir wieder einfahren, kann´s länger dauern. Fahren wahrscheinlich erst gegen Abend aus.«
Joseph blieb ein Glückauf im Hals stecken. Schneller als sonst trieb er Max zum Schacht. Was war hier los? Nichts war wie sonst. Die Eintönigkeit seiner Arbeit schien ihm plötzlich so sehr erstrebenswert. Max und er auf der Strecke, Wagen anhängen und los in der Dunkelheit, mattes flackerndes Licht, dampfender Pferdekörper unterwegs auf feuchter Sohle. Das Rollen der Wagen. Ein Junge und ein Pferd tief unter der Erde.
Richards Reich. Der Pferdestall nicht weit vom Schacht. Gerade so, dass der Wetterzug nicht zu schlimm war. Pferde waren ebenso empfindlich wie robust. Im Heu lag ein Riese, der stärkste Mann weit und breit, und schlief.
Wovon träumst du, Richard? Schwer zu sagen. Von den Dragonern vielleicht, zu denen er so gerne gehört hätte. Träume führten so weit weg. Die ganze Fülle des Lebens. Wahr wurden sie nie. Nicht für ihn. Richard der Starke, Kaiserschnurrbart und als Palast ein Pferdestall unter Tage.
Ganz schön was los am Füllort. Wagen wurden aufgeschoben. Er wurde wach und erinnerte sich des Auftrags des Obersteigers. Max übernehmen. Den Jungen ausfahren lassen. Der Anschläger wusste schon Bescheid. Richard war langsam, sehr langsam, aber er vergaß nichts. Behäbig stand er auf und ging zum Schacht.
»Ich soll ausfahren« rief Josef ihm aufgeregt entgegen.
»Sonderorder für unseren Helden.« Richard breitete seine mächtigen Arme aus. Einer landete auf dem Pferdehals, der andere auf den Schultern des Jungen. »Machst ja ganz schön Wirbel für ´nen Pferdejungen am Montagmorgen. Will gar nicht wissen, wie deine Woche noch weitergeht.«
»Manche müssen halt schaffen, wenn andere Tabaksaft ins Heu sabbern.« Joseph tauchte unter der Pranke durch zur Seite.
»Besser im Heu aufschlagen als im Dreck der Sohle. Deine Klappe kostet dich irgendwann die Zähne.«
»Erzähl´s bloß nicht weiter, bin nicht gerade stolz drauf.«
»Bist doch sonst so flink.«
»Der ging schneller hoch als ein Kettenköter.«
»Kriegt halt jeder, was er verdient.« Genau daran musste Richard oft zweifeln.
»Der nächste Abbau ist der unterm Erzsteig. Fährst besser los.«
»Bring mir noch ´nen Priem mit, wenn du wieder einfährst. Frag Karl, der wird noch einen haben.«
»Frag doch den Obersteiger.«
»Mach, dass du fortkommst. Oder ich hetz´ den Gaul auf dich.«
Joseph zog los.
Richard sah das Pferd an. »So wär´ ich auch gern mal gewesen«, meinte er zu sich selbst.
Der Junge hatte einen schnellen Kopf und ging auf die Welt zu wie ein Welpe an die Wurst. Eigentlich hatte der Bursche alles, was ihm selbst immer fehlen würde.
Richard war dreißig Jahre älter und er war nur eingeschränkt einsatzfähig. Beschränkt.
»Davon gibt´s viele«, sagte er zu Max. Aber im Gegensatz zu den meisten wusste er, dass es so war. Langsam trotteten die beiden in die Strecke. Wie so oft hatte Richard dem Tier noch einiges zu erzählen.
»Eine Extraseilfahrt für den jungen Herrn. Wenn den Herren Steigern nicht dauernd was einfiel, hätte ich ja auch nichts zu tun.« Der Anschläger griff zum Signal. Zunächst viermal ertönte die Glocke des Schachtsignals.
Immer schneller hob der Förderkorb Joseph nach oben. Der Pferdejunge allein im Korb. Die Förderung musste solange warten. Seilfahrt nur für ihn. Das hatte er noch nie erlebt. Sonst fuhren meist nur wichtige Leute während der Förderung mit dem Korb. Alle anderen fuhren an und erst nach der Schicht wieder aus. War das ein Tag. Dabei ahnte er nicht, was ihn noch erwartete.
Gut, dass er einiges gewohnt war. Ein kleines Bündel zusätzlicher Lampen hing über der einen Schulter, eine Ölflasche und ein Beutel über der anderen. Steiger Steiner legte ein ganz schönes Tempo vor. Längst hatten sie die befahrenen Strecken verlassen. Erklärt hatte man ihm nichts.
»Was suchen wir denn?« Irgendwann musste er dann doch fragen.
»Den Stein der Weisen.« Steiner blieb stehen.
»Mein Gott. Wo gibt´s denn so was?«
»Das wüssten viele gern. Noch nie gehört – oder gelesen?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Kannst doch lesen, oder?«
»Besser als Richard.«
»Donnerschlag.« Zum ersten Mal sah er den Steiger grinsen.
Josef war stolz. Kaum ein Wort verloren die Grubenbeamten an einen Pferdejungen. Ein »Glückauf« war da schon viel. Hauer im Gedinge flößten ihm schon Respekt ein. Steiger oder Markscheider waren eine andere Welt. Auch Steiner hatte bisher nur das Nötigste mit ihm geredet. Anweisungen halt.
»Aber den Alten Mann kennst du doch, oder?«
»Besser als mir lieb ist. Letzte Woche wurde im Erzsteig wieder verfüllt. Natürlich musste ich helfen. ´Ne ganze Menge haben wir da ´reingeschaufelt. Dann lieber mit Max unterm Gang. Junge Leute sollten den Alten Mann in Ruhe lassen, wenn sie mich fragen.« Wieder konnte er seine Klappe nicht halten.
»Das hätte meine Frau hören sollen«, lachte Steiner. »Das hätte ihr gefallen.«
Der Steiger stapfte weiter. Jetzt musste eigentlich die Schicht zu Ende sein. Müde und hungrig hätte Joseph jetzt ausfahren sollen. Doch daran dachte er nicht. Selten war er so wach gewesen.
Seilfahrt für die Frühschicht. Lange vorher hatte Richard die letzten Erzwagen am Schacht abgeliefert. Gut versorgt ruhte Max in seinem Stall unter Tage aus. Ein anderes Pferd stand für die Mittagsschicht bereit. Und ein alter Freund hatte ihm eine kleine Bitte erfüllt.
Der Anschläger kontrollierte die Seilfahrt. Die Förderung ruhte. Nach und nach fanden sich die Hauer am Füllort ein. Nicht so ernst wie bei der Einfahrt, kein Gebet nun. Aber jeder hatte seine Marke mit seiner Nummer zu nehmen. Bei der Einfahrt hatte der Anschläger sie auf einen Drahtring gesteckt. In der gleichen Reihenfolge fuhren sie nun aus. War der Drahtring leer, war auch die Frühschicht wieder heil über Tage.
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