»Eine was? Eine Ohrpfeife?« Albert konnte sich vor Lachen nicht mehr halten. »Was soll das denn sein?«
» Une gifle, vous comprenez? «
»Entweder Ohrfeige oder Backpfeife. Sie sollten sich entscheiden. Aber, wenn ich es mir recht überlege, hören sich Ohrpfeife und Backflöte auch nicht schlecht an. Man sollte die Ausdrücke im Duden aufnehmen.«
»Ohrfeige, -pfeife oder -pflaume, ist doch egal. Hauptsache es macht die Wangen rot!« Jetzt musste auch Sylvie lachen.
»Entschuldigen Sie, ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Ihr Deutsch ist wirklich hervorragend. Kleine Schnitzer wirken da eher charmant.« Albert beeilte sich das Gesprächsthema zu wechseln. Bei Filmen kannte er sich besser aus als im Strukturalismus. »Ich finde Jules und Jim ist ein wirklich gelungener Film von Truffaut mit einer guten Geschichte und tollen Darstellern. Mir hat auch Schießen Sie auf den Pianisten mit Charles Aznavour gefallen. Truffaut zeigt, dass eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.«
Dieser bedeutungsschwere Gedanke - Albert hatte inzwischen vergessen, wo er ihn aufgeschnappt hatte - gehörte seit Jahren zu seinem Standardrepertoire bei cineastischen Gesprächen.
»Ich finde das Ende des Films gar nicht so schrecklich. Es wäre doch viel schlimmer gewesen, wenn Jules und Catherine weiter zusammengelebt hätten ohne sich zu lieben, wenn sie sich das Leben weiter zur Hölle gemacht hätten«, entgegnete Sylvie.
»Es ist wenigstens ein richtiges Ende. Ich sehe jedenfalls lieber französische als deutsche Filme: Truffaut, Louis Malle, Melville, die Nouvelle Vague eben. Bei uns werden doch nur Winnetou- und Edgar Wallace-Filme gedreht oder Heimatschnulzen. Wissen Sie, wenn ich Elsässer wäre, würde ich auch lieber Franzose sein wollen als Deutscher. Da hat man es leichter in der Welt. Ihr Franzosen seid beliebt und werdet überall für eure Lebensart beneidet. Uns Deutschen begegnet man dagegen mit Misstrauen, wegen Hitler und dem Weltkrieg. Das kann ich natürlich verstehen.«
»Sie sollten sich das vielleicht nochmal überlegen. Wenn Sie nämlich Franzose wären, hätte man Sie zum Militär eingezogen und womöglich in den Krieg nach Algerien geschickt. So ist es einigen Freunden von mir ergangen. Ich glaube, die hätten gerne mit Ihnen getauscht. Ihr Berliner müsst nicht mal zur Bundeswehr. Das ist hier doch eine île des bienheureux .«
»Sie meinen wirklich, diese von Stacheldraht eingekreiste Halbstadt wäre eine Insel der Glückseligen? Na, ich weiß nicht. Dazu fehlen mindestens noch ein paar Palmen und Sandstrand. Das Wetter müsste auch besser sein.«
»Viele Franzosen sind froh, dass Ost- und Westdeutschland sich gegenseitig in Schach halten«, fuhr Sylvie fort, nachdem sie ihre Gauloise im Aschenbecher ausgedrückt hatte. »So kommt ihr wenigstens nicht auf die Idee, gemeinsam über den Rhein zu ziehen. Ein französischer Schriftsteller hat einmal gesagt: Ich liebe Deutschland so sehr, dass es mich freut, dass es zwei davon gibt. Die Mauer und der Stacheldraht sind furchtbar. Ich kann andererseits auch verstehen, warum die DDR die Grenze geschlossen hat und niemanden mehr in den Westen fahren lässt. Es sind einfach zu viele nicht mehr zurückgekommen. Du bildest Handwerker, Ärzte und Ingenieure aus. Die sagen dann: Danke schön für die gute Ausbildung, aber jetzt gehen wir in den Westen, weil wir dort mehr verdienen und uns ein besseres Leben leisten können .«
»Das sehen Sie zu einseitig«, protestierte Albert. »Ich kenne viele, die von drüben gekommen sind. Denen ging es nicht ums Geld, sondern um Freiheit. Sie wollten einfach nicht mehr drangsaliert werden und sich vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben. Dass man dahin zieht, wo es einem besser geht, ist doch völlig logisch, zumal, wenn man im gleichen Land mit der gleichen Sprache bleiben kann und dafür nicht - wie unsere Vorfahren - nach Übersee auswandern muss.«
» Oui, vous avez raison , Sie haben recht. Freiheit ist wichtig. Den ständigen Verlust von Menschen hätte die DDR jedoch nicht mehr lange verkraftet. Sie mussten etwas dagegen tun. Was ich nicht verstehe ist, warum die DDR nicht erlaubt, dass ihr eure Verwandten und Freunde im Osten besucht - außer zu Weihnachten. Was soll das bringen? Ihr bleibt doch bestimmt nicht drüben.«
»Es sind eben politische Spielchen, die in Berlin gespielt werden, wenn Sie mich fragen. Das war schon immer so. Die DDR will als Staat anerkannt werden und West-Berlin von der Bundesrepublik trennen. Das akzeptieren wir im Westen nicht. Wir haben einen Alleinvertretungsanspruch.«
»Aber die DDR ist doch ein Staat, sogar ein ziemlich stramm organisierter, wie ich finde. Was sollte die DDR denn sonst sein?«
»Was weiß ich, die Zone oder der kommunistische Machtbereich mit Spalterfahne . Sie müssen dabei immer eines bedenken, sonst begreifen Sie nicht, wie die Dinge in Berlin laufen: Hier geht es immer ums Prinzip, nie um den gesunden Menschenverstand. Jede Seite hat Angst, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie der anderen auch nur ein Stückchen entgegenkommt.«
»Schon das Wort Alleinvertretungsanspruch klingt gruselig in meinen Ohren wie Ermächtigungsgesetz oder Reichsbürgersteigsfegeverordnung.«
Albert schaute verwundert.
»Was soll denn die Reichsbürgersteigsfegeverordnung sein? Davon habe ich ja noch nie gehört.«
»Was sind Sie denn für ein Deutscher? Sie kennen nicht einmal die Fegeverordnung?«, fragte Sylvie keck. »Vielleicht heißt sie jetzt auch Bundesbürgersteigsfegeverordnung.«
»Meinen Sie nicht, dass Sie ein klein wenig übertreiben? So weit geht die Bürokratie in Deutschland nun doch nicht.«
Erst jetzt fiel Albert auf, dass die meisten Besucher inzwischen das Centre Culturel verlassen hatten. Auch der Barmann schien Feierabend machen zu wollen und begann den Tresen abzuwischen. Albert schaute Sylvie an.
»Ich glaube, man will hier schließen. Hätten Sie vielleicht Lust noch irgendwo etwas trinken zu gehen, da könnten Sie mir das mit der Bürgersteigsfegeverordnung näher erklären. Außerdem möchte ich unbedingt noch mehr über Elsässer Wein erfahren.«
» Bonne idée , sehr gerne, allons-y !«, sagte Sylvie mit einem Lächeln. Im Stillen dachte sie: Na endlich! Ich dachte schon, er würde nie fragen.
November 1966
Der Applaus wollte nicht enden. Erst nach zwei Zugaben ließ man die Beat Masters von der Bühne der Dachluke. Rickys Band hatten bereits öfter in dem Jugendclub am Mehringdamm gespielt. Heute war die Resonanz jedoch besonders gut. Zufrieden stieg Ricky von der Bühne und ging zur Bar, um sich etwas zu trinken zu holen. Er schwitzte und hatte Durst. Gerade wollte er ein Bier bestellen, da spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Als er sich umdrehte, schaute er in das lächelnde Gesichte eines mittelgroßen Anzugträgers. Der Mann war um die dreißig, mit adrett geschnittenem, kurzem Haar. Er machte nicht den Eindruck, Stammgast in der Dachluke zu sein.
»Ihr spielt echt toll, Jungs. Große Klasse, great music ! Darf ich dir einen ausgeben? Ihr seid mindestens so gut wie die Hound Dogs. Wieso spielt ihr eigentlich für ‘nen Appel und ein Ei in so einem Senatsschuppen, wenn ich fragen darf?«
»Man nimmt eben, was man kriegen kann«, sagte Ricky und nahm einen Schluck aus der Flasche. »In Berlin ist die Konkurrenz groß.«
»Was ihr braucht, ist ein Manager. Jemand, der euch die Türen ins große Geschäft öffnet. Ich könnte das für euch übernehmen. Ich kenn‘ mich im Showbusiness aus. Ich bin Dietrich Reiser, meine Freunde nennen mich Johnny.« Der Mann reichte Ricky seine Geschäftskarte. Dort stand Künstleragentur Astra. Inhaber: D. Reiser. »Ich denke, man müsste nur ein bisschen was an eurem Erscheinungsbild ändern. Etwas modischer könntet ihr schon aussehen. Ihr macht den Eindruck, als wärt ihr geradewegs von der Straße auf die Bühne marschiert. Ein wenig Styling wirkt da Wunder. Das hat auch den Boots geholfen. Die werden auch von mir gemanagt. Jetzt touren sie für 3 000 Mark Minimum am Abend in Westdeutschland. Ihr wirkt auf der Bühne auch noch etwas zu provinziell, nicht groovy genug, if you know what I mean . Aber sonst, ganz tolle Musik! Da lässt sich was draus machen. Ich hätte da auch schon ein paar Ideen: erst eine Tournee im Bundesgebiet und dann die erste Single, im nächsten Jahr dann ein Plattenvertrag und eine Langspielplatte. Das wär‘ doch was, oder? Meldet euch, wenn ihr Interesse habt. Du hast ja meine Karte.«
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