Noch ganz gebannt von Jeanne Moreaus Charme, ging er nach der Vorstellung zur Bar, um sich einen Rotwein zu bestellen. Vor ihm stand eine junge Frau mit halblangen, blonden Haaren, die unschlüssig auf das Getränkeangebot schaute. Als sie Albert hinter sich bemerkte, sagte sie lächelnd, während sie den Kopf wendete:
» Allez-y, Monsieur, ich weiß noch nicht, was ich trinken will.«
Das Deutsch der Blondine war fehlerfrei. Erst bei genauerem Hinhören bemerkte man einen kleinen Akzent, der verriet, dass es nicht ihre Muttersprache war. Albert war von der Stimme sehr angetan. Die junge Frau gefiel ihm, auch wenn er sie nicht für eine überragende Schönheit hielt. Auf einer Skala von eins bis zehn war sie vielleicht eine Sieben. Eine Zehn - das waren unerreichbare Schönheiten wie Catherine Deneuve, Claudia Cardinale oder auch Marianne Niemann aus seinem Uni-Seminar. Die schöne Marianne , die von allen Kommilitonen umschwärmt wurde.
Dass er die junge Unbekannte, die ihm den Vortritt an der Bar ließ, zwar durchaus attraktiv, aber nicht überwältigend schön fand, hatte den Vorteil, dass nicht jene Nervosität aufkam, die ihn regelmäßig in Gegenwart makelloser Schönheit überfiel. Im Gespräch mit der schönen Marianne fielen ihm meist nur Banalitäten ein, die er stammelnd hervorbrachte. Der unbekannten Blondine empfahl er dagegen jovial:
»Also ich nehme immer den Rotwein, französischen Rotwein. Der ist gut, schmeckt richtig süffig«.
»Was ist es denn für ein Rotwein? Ich meine, woher kommt er?«
»Na, aus Frankreich, habe ich doch gesagt.«
Die junge Frau verdrehte die Augen. » Mais de quelle région ? Aus welcher Gegend kommt denn der Wein?«
»Keine Ahnung, ist das nicht egal? Hauptsache er ist aus Frankreich und schmeckt nach Urlaub.«
Die Blondine schaute zweifelnd. Konnte jemand, der offensichtlich eine gewisse Bildung hatte und sich sogar französische Filme ansah, wirklich so ignorant sein? Zumindest bestätigte es ihre kulinarischen Erfahrungen der letzten Wochen: In Berlin gab es zwar viel Kultur in Museen und Theatern, aber keine Ess- und Trinkkultur.
»Ich glaube, ich nehme dann doch lieber eine Coca Cola«, erklärte sie resignierend.
»Warten Sie, ich bringe Ihnen eine mit«, bot Albert an. »Darf es einfach eine Cola sein oder möchten Sie wissen, aus welcher Gegend sie stammt und ob sie im Holzfass gelagert wurde?«
» Très drôle , sehr witzig«, entgegnete die Frau mit leichtem Grinsen. Der Kerl verstand zwar offensichtlich nichts von Wein, schien aber immerhin einen gewissen Sinn für Humor zu haben. Außerdem fand sie, dass er ganz passabel aussah. »Das ist eben der Unterschied, Monsieur. Bei Wein möchte ich schon Genaueres wissen. Ich stamme eben aus einer Weingegend. Bei Cola und Berliner Bouletten finde ich es dagegen besser nicht zu viel zu fragen, sonst vergeht einem am Ende noch der Appetit.«
Albert bestellte die Getränke an der Bar und erkundigte sich beim Barmann nach der Herkunft des Weins. Als Antwort bekam er nur ein kurzes: »Vin de Pays, Landwein.«
»Eigentlich kann man mit der braunen Brause ja nicht anstoßen«, sagte Albert, während er seiner neuen Bekannten die Coca Cola reichte. »Aber, was soll’s. Ich bin Albert, Albert Bergmann aus Charlottenburg.«
» Enchantée , ich heiße Sylvie Ginglinger und komme aus Alsace, also dem Elsass.«
»Ach, dann sind Sie ja eine halbe Deutsche! Deshalb sprechen Sie unsere Sprache so gut.«
Sylvie rümpfte die Nase.
»Von den Deutschen vereinnahmt zu werden, das mögen wir Elsässer überhaupt nicht. Wir haben da schlechte Erfahrungen gemacht. Sie werden bei uns kaum jemanden finden, der für einen Deutschen gehalten werden möchte. Nicht einmal meine Großmutter, die Goethe über alles liebt und den halben Faust auswendig kann.«
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich will Sie nicht heim ins Reich holen. Aber historisch und kulturell ist das Elsass doch sehr deutsch geprägt, meinen Sie nicht?«
»Ihr Deutsche landet immer schnell bei Blut und Boden . Für uns geht es weniger darum, wo man herkommt, sondern darum, wo man hin will. Wichtig ist doch, welcher Nation man sich zugehörig fühlt. Wir sind Français de Coeur, unser Herz ist französisch. Seit der Revolution identifizieren wir uns mit Frankreich.«
Albert überlegte, was er über das Elsass wusste.
»Ich habe mal einen guten Wein aus dem Elsass getrunken, eine Spezialität, den Edelzwicker. War zwar etwas säuerlich, aber sonst nicht schlecht.«
»Ein Edelzwicker ist nun wirklich keine Elsässer Spezialität, sondern Resteverwertung. Manchmal kann er ganz gut schmecken. Das ist aber Glückssache. Mein Großvater war Winzer. Den guten Wein hat er in Flaschen gefüllt, unterschieden nach Rebsorten, also Silvaner, Riesling oder Gewürztraminer. Diese Flaschen hat er dann unter seinem Namen verkauft. Der Rest der Ernte ging an einen Großhändler. Der kam mit seinem Tankwagen. Da füllte er alle Reste ein. Die hat er dann in Flaschen abgefüllt, bunte Etiketten mit Störchen und Elsässer-Mädchen draufgeklebt und nach Deutschland als Edelzwicker verkauft. Mein Großvater sagte dazu immer: ‚ Assez-bien pour les Bosch! Gut genug für die Deutschen .‘«
»Das ist nicht sehr freundlich ausgedrückt. Wir sind beim Essen und Trinken eben nicht so anspruchsvoll wie ihr. Wieso sind Sie eigentlich nach Berlin gekommen, wenn Sie in Frankreich alles besser finden?«
Sylvie dachte, das frage ich mich manchmal auch . Sie wollte Albert jedoch nicht verschrecken. Deshalb antwortete sie diplomatisch:
»Nein, nein. Es gibt vieles, was mir in Deutschland gefällt, zum Beispiel die Musik oder die Literatur. Vieles funktioniert hier auch besser als in Frankreich. Wegen des guten Essens bin ich allerdings nicht hier, obwohl ich Berliner Weiße mit Schuss gerne trinke. Ich studiere Germanistik. Im Augenblick bin ich nur kurz in Berlin, um mir ein Zimmer zu suchen. Im Januar komme ich dann für ein Jahr als Austauschstudentin an die Freie Universität.«
»Mein Lieblingsschriftsteller ist ein Franzose, Albert Camus. Irgendwann möchte ich ihn auch mal im Original lesen. Den ganzen französischen Existentialismus finde ich toll: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Das Leben hat nur den Sinn, den man ihm selbst gibt und so weiter.«
»Für den Existentialismus interessiert sich in Frankreich wirklich niemand mehr, außer ein paar Ketterauchern im Rollkragenpullover«, bemerkte Sylvie beiläufig, während sie eine Packung Gauloise aus der Handtasche hervorkramte. Das gab Albert Gelegenheit, ihr Feuer anzubieten. »Die Fähigkeit des Menschen, sich wirklich frei zu entscheiden, wird von den Existentialisten überschätzt. Heute ist der Strukturalismus in Mode.«
»Ja, ich habe schon mal vom Strukturalismus gehört«, antwortete Albert nachdenklich. »Du denkst, dass du frei bist, aber alles, was du tust, ist doch von der Gesellschaft eingetrichtert und von Ritualen gesteuert. Vielleicht ist da ja etwas dran, trotzdem gefällt mir die Idee nicht. Es erinnert mich zu sehr an einen Film, den ich mal gesehen habe. Da sind Menschen von Außerirdischen ausgetauscht worden. Die Replikanten sahen genauso aus wie die Originale, waren aber völlig willenlose Roboter. Eigentlich ist der Strukturalismus eine sehr bequeme Lebenseinstellung. Schuld an dem, was mir misslingt, sind immer andere, irgendwelche dunklen Mächte, die an den Strippen ziehen. Ich selbst trage keine Verantwortung. Wenn beispielsweise ein Mann Sie dumm anquatscht und belästigt, kann er immer behaupten: Ich kann nichts dafür! Ich bin eine Marionette meiner Triebe und der patriarchalen Strukturen! «
» Oui, peut-être , aber dann kann ich auch nichts dafür, wenn er von mir spontan eine Ohrpfeife bekommt.«
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