Das Haus·ist ein, von den Urgroßeltern erbautes und von den Enkeln aufgestocktes, Gebäude, das in seiner Mitte geteilt ist und von zwei Familien bewohnt wird. Die Eingänge zu Liebschels Hausteil sind ein grün gestrichenes, übermannshohes hölzernes Tor und eine ebensolche Tür. Stall und Schuppen, ein Hundezwinger und Waschhaus schaffen einen engen Hof, auf dessen grobem Pflaster sich allerlei Geflügel, Katzen, Kaninchen und zu mancher Zeit ein Schwein und ein paar Schafe tummelten.
Eine Klingel fand ich nicht, Tor und Tür standen offen. Ich ging über den Hof, stieg ein paar Stufen, öffnete die angelehnte Haustür und sah in einen mit Holz verkleideten und mit Eckbank und Bauerntisch ausgestatteten Vorraum. Ich trat hinein, es war kühl, und ich hatte den Eindruck, als würde der Raum nie benutzt. Von oben, über eine Stiege, kam mir Wärme, Schweiß- und Bratengeruch entgegen, und es waren Stimmen zu hören, Lachen, Radiomusik und das Klingeln eines Telefons. Ich nahm mit einem Schritt drei Stufen, als würde ich mich von Kindheit an hier auskennen. Die Stiege mündete in einen Flur, dessen Wände mit Jacken, Arbeitsmänteln, Hüten und Mützen behangen waren. Zwei Türen standen weit offen; die eine Öffnung ließ in eine Küche blicken, auf deren Herd es aus Pfannen und Töpfen dampfte, die andere führte in ein Wohnzimmer. Das hatte vier Fenster, von denen zwei auf die Straße und zwei auf den Hof zeigten. Zwischen den Fenstern, so dass von hier aus Straße und Hof zu übersehen waren, stand ein Plüschsofa aus längst dahingegangener Zeit. Auf ihm lag Kurt Liebschel, mit Turnhose und Turnhemd bekleidet. Im Zimmer, obwohl es etwa dreißig Quadratmeter misst, befanden sich nur wenig Möbel - eine Anrichte voller Gläser und Wimpel, darauf standen ein alter Fernsehapparat, der blass flimmernde Bilder zeigte, und ein großer hölzerner Kasten mit giftgrüner Skala und einem roten Zeiger, aus dem laut Blasmusik tönte; ein Tisch mit Krügen, Gläsern, Bierflaschen und Aschenbechern, und überall Stühle, auf denen Leute saßen, alte und junge. Auf den abgetretenen Dielen rutschten Kinder umher, die Holzscheite wie Züge, Autos und Flugzeuge bewegten. Im Raum war es heiß, die Luft war trotz geöffneter Fenster tabakqualmstickig, und da jeder sprach, fühlte ich mich in ein babylonisches Sprachgewirr versetzt, das ich aber bald zu enträtseln wusste.
Kurt Liebschel lag also auf dem in der Mitte bis zum Fußboden durchhängenden Sofa, er rauchte eine schwarze Zigarre, telefonierte, wobei er nur ab und zu sprach, nickte mir freundlich auffordernd zu, mich zu setzen. Das war nicht einfach, denn im Zimmer befanden sich wenigstens zwanzig Menschen. Jemand fasste mich am Arm und leitete mich zu einer Fußbank, die neben einem Lehnstuhl stand, in dem die Großmutter, die linke Hand wie einen Trichter vor das rechte Ohr haltend, in eine wollene Decke gewickelt saß. Ich setzte mich auf die Fußbank und sah eine Frau um die Dreißig, zierlich, aber nicht zerbrechlich wirkend, in einer Kittelschürze, die bis zu den Schultern nackten Arme dunkel gebräunt, im blonden Haar schwarze Lockenwickel. Sie sagte: "Ich bin Hanna. Seine Frau." Ihre Augen blickten beunruhigt, ihr Mund war mädchenhaft trotzig zusammengepresst, und manchmal brach sie vor allen Leuten in Tränen aus.
Sie ging zum Sofa, kauerte sich nieder, Kurt Liebschel rekelte sich mit Mühe hoch, legte seine mächtige Hand auf ihren Kopf und sagte geduldig und voller Wärme: "Na, komm schon, altes Mädchen." Sie rieb Augen und Nase an seinem Turnhemd, lachte, als sei ihr etwas Dummes passiert, lief in die Küche und kam bald darauf mit einer Waschschüssel voller Gehacktem zurück.
"Langt zu", sagte Kurt Liebschel, hieb mit einem Schlachtermesser in das durch den Wolf gedrehte Fleisch, zog einen Batzen heraus, drückte ihn auf eine dünne Scheibe Weißbrot und aß schmatzend. Kurt und Hanna hatten vor einem Jahr geheiratet. Sie hatte eine achtjährige Tochter mitgebracht, die Kurt Liebschel mit Vaterland anredete, und er rief sie Katastrophe . Dieser schwabbelnde fleischige Mann und dieses dünne, bleiche Mädchen hatten ein so inniges Verhältnis zueinander, dass sie wenig miteinander sprechen mussten. Oft beobachtete ich, wie sie sich durch einen Blick verständigten. Hanna Liebschels Vorgeschichte , wie sie selbst sagte, erfuhr ich erst Jahre später, als ihr gewandeltes Wesen auch den Ausdruck ihres Gesichts verändert hatte. Ihre Blicke hielten auf Menschen und Dingen aus, ihre Hände packten fest zu, und sie lief gerade, mit erhobenem Kopf, eine Königin in Kittelschürze, Kopftuch und Gummistiefeln. Sie war Mutter und Ehefrau, führte Haus und Hof, bearbeitete ein Stück Feld, war halbtags im Büro des Bürgermeisters tätig und hatte ein Fernstudium für Ökonomie begonnen. Nie hörte ich sie über zu viel Arbeit klagen. Kurt Liebschels "Da muss man dran drehen", setzte sie freudig in die Tat um. Sie steckte sich selbst ihre Ziele, und bei allem, was sie tat, gewann sie Kraft. Ich denke mir das so: Kurt Liebschel hatte Hanna von ihrer Vorgeschichte : zwei gescheiterte Ehen, allabendliche Kneipengänge, Liebschaften, zwei Unterschlagungen, halbjähriger Gefängnisaufenthalt, wieder Alkohol, entlastet. Im Blauen Wunder , wo Kurt Liebschel Freitagabends einen Skat drosch, hatte er Hanna kennengelernt. Als sie an nichts mehr glaubte, vor allem nicht an sich selbst, hat Liebschel sie eines Freitagabends gefragt, ob sie sich vorstellen könne, mit so einem nackten Berg , wie seine Freunde ihn nannten, zu leben. Er jedenfalls würde sich mächtig freuen, wenn sie ja sagte. Kurt Liebschel war ein weithin geachteter Mann, der einer Bäuerlichen Handelsgenossenschaft vorstand. Hanna hat ja gesagt, aber bestimmt nicht aus einem sinnverwirrenden Gefühl heraus. Ich denke mir, sie hat einfach nur eine letzte Chance für sich und ihr Kind geahnt. Und sie hat bei Nanga Parbat lieben gelernt, erst einmal sich selbst und dann die anderen Menschen.
Kurt Liebschel hat einmal zu mir gesagt, und ich denke, das war sein Glaubensbekenntnis: "Wenn du erfahren willst, wer du selbst bist und was du kannst, musst du die Kumpels zeigen lassen, wer sie sind und was sie können. Jeder muss sich selbst sein Gesicht geben. Der eigene Kopf muss wachsen. Verstehst du: damit er dran drehen kann."
Ja, Sonntagvormittags bei Liebschels saß ein munteres Völkchen zusammen: die Müllern, Köchin in der Holländer Mühle ; Eduard, Bürgermeister und Rassetaubenzüchter; Lehrer Hinz, Angler und Esperantoverfechter; Bäuerin Alma, Mutter des ganzen Dorfes; Herbert Natz, Gastwirt aus Sendungsbewusstsein und wegen nicht zu befriedigenden Durstes; Heiner, Student der Kulturwissenschaft, der nach der Mutter Wunsch lieber als Mädchen zur Welt gekommen wäre; der von seiner Schwester dauerwellenfrisierte die endgültige Weltrevolution auskämpfen wollende und in Frauennähe jäh errötende Oberschüler Guevara . Und es kamen und gingen ihrer viele mehr. Wenn es der Dienst in der Kaserne Roter Stern erlaubte, kam der sowjetische Offizier Wassili und seine, an Gewicht Nanga Parbat nur einen Zentner nachstehende, Frau Tanjetschka. In den Jahren sah ich die stillen und für alles dankenden Vietnamesen Han und Nguyen, die mit den Kindern Mädchen bei der Kokosernte malten; den schweigsamen Chilenen Pedro, der das Lachen wiedererlernen wollte wie andere eine vergessene Sprache; den Kongolesen Mohammed Ali II., Exboxer, Landwirtschaftsstudent und Liebhaber deutscher Mädchen und Grimm’scher Märchen.
An den Sonntagvormittagen bei Liebschels war vieles möglich, für das man in der Woche keine Zeit, keinen Mut oder kein Vertrauen hatte. Im äußeren Vordergrund standen die Geschäfte . Es wurde gehandelt mit Dingen, die schwer zu haben waren und darum umso dringender gebraucht wurden. Irgendeiner hatte irgendwas anzubieten, was ein anderer brauchte, der natürlich eine Gegengabe bereithielt. Oder man kannte jemanden, der das geben und dies haben wollte. Dachschindeln wurden gegen grüne Fliesen getauscht, Vierkanthölzer gegen preisgesenkten Teppichbelag, zwanzig Quadratmeter Dielenbretter gegen zweihundert Klinkersteine und so weiter. Irgendetwas fehlte immer, und irgendwo war es zu haben. Und wenn sich ein Problem als zu hartnäckig zeigte, schauten sie auf Kurt Liebschel, ihren Nanga Parbat, der Hinz und Kunz kannte und dran drehte . Er griff zum Telefon, wählte eine Nummer, sagte: "Hier Kurt. Kann ich Erwin sprechen? - Na, alter Kämpfer, wie ist das Befinden? Ist die Wanne heil angekommen? - Erwin, hör mal zu, wir haben hier einen Sonderfall zu lösen. Die gute Frau braucht ..."
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