Mit rotem Kopf ging er wieder zurück ins Zimmer. „Entschuldige bitte meinen Aufzug“, sagte er und goß verlegen das Wasser aus der Kanne in den Samowar. „Ist mir gar nicht aufgefallen, daß ich nichts anhatte.“
„Stimmt nicht“, sagte sie lachend. „Erstens hattest Du noch was an, und zweitens siehst Du ziemlich gut aus. Macht also gar nichts.“ Sie stand auf. „Wo hast Du denn die Teegläser und Deine ‚Warenije‘?“
„Warenije, das hast Du Dir gemerkt?“
Sie nickte. „Hab ich. Wo ist sie also?“
„Da hinten im Schrank“, antwortete er lachend.
Sie nahm die Sachen heraus und stellte sie auf den kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln.
„Du bist wirklich süß, Lara“, meinte er, als er den fertigen Tee in die Gläser schüttete. „Und ich freue mich unheimlich, daß Du da bist.“
Dann saßen sie da, tranken Tee und schwiegen sich an.
***
In den nächsten Tagen brachte Lara Mikhail das Essen hinauf in sein Turmzimmer. Das Treppensteigen war ihm einfach noch zu beschwerlich mit der frischen Operationsnarbe. Er hatte es versucht, in den Speisesaal zu kommen, aber Lara sah, wie er sich quälte.
„Kommt nicht in die Tüte, daß Du Dich dreimal am Tag hier runterschleppst und dann vor lauter Schmerzen doch nicht richtig essen kannst“, sagte sie. „Ich komm rauf zu Dir und wir essen zusammen bei Dir oben.“
Mikhail fügte sich widerspruchslos. Es wurden lustige Mahlzeiten zu zweit. Beide tauten sie allmählich auf, verloren aber trotzdem nicht ihre Scheu voreinander. Es blieb beim Händchenhalten. Mehr trauten sie sich nicht.
Lara erzählte ihm von ihrer Familie. Oder ihrer gewesenen Familie, besser gesagt. Ihre Eltern waren geschieden. Das war der Grund, warum sie ins Internat gekommen waren. Ihr älterer Bruder war ebenfalls im Internat. Aber in einem anderen, weit weg, in Süddeutschland. Sie verstanden sich nicht besonders gut, deshalb.
Mikhail bedrückte das, als sie es ihm sagte.
„Ich habe meine kleine Schwester sehr geliebt“, sagte er. „Sie war halb so alt wie ich und ein richtiger Wildfang. Aber ganz, ganz lieb. Immer wenn sie was wissen wollte oder wenn sie etwas bedrückt hat, kam sie zu mir. Ich vermisse sie sehr.“
„Aber Du wirst sie doch sicher bald mal wiedersehen“, versuchte Lara ihn zu trösten.
Er schüttelte den Kopf. Tränen schossen ihm in die Augen. „Nein“, sagte er leise. „Ich werde sie nie mehr wiedersehen. Sie ist tot. Wie meine Eltern auch.“
Er fing an zu weinen.
Lara war zutiefst erschüttert. Sie sprang auf, ebenso wie er auch. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber er wehrte sie ab. Ging stattdessen zum Fenster, durch das man nach Osten sehen konnte und zeigte hinaus. „Da hinten, ganz weit im Osten, da liegen sie begraben.“
Er schluchzte hemmungslos.
Lara ging zu ihm hin und legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter. Sie sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen, das nicht nicht allzu banal angehört hätte? Also schwieg sie und wartete geduldig, bis er sich langsam wieder beruhigte.
Er sah sie an. „Du hast Deine Familie noch, Lara. Versuche bloß, sie festzuhalten. Auch wenn Deine Eltern sich nicht mehr verstehen. Aber Dein Papa bleibt immer noch Dein Papa, und Deine Mama bleibt Deine Mama. Andere hast Du nicht, und andere kriegst Du auch nicht. Ebenso wie Deinen Bruder. Tu alles, damit Ihr Euch vertragt. Glaub mir, es ist schrecklich, wenn man niemanden mehr hat.“
Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, öffnete eine der Schubladen und nahm seine Klarinette heraus. Er setzte das Instrument zusammen und begann zu spielen. Sie kannte die Melodie von irgendwoher, aber sie wußte sie nicht zuzuordnen.
„Was war das?“ fragte sie, als er geendet hatte.
„Das war Lara’s Theme“, antwortete er. „Aus einem alten Film: Doktor Schiwago.“ Er lächelte sie an. „Sie paßt zu Dir, diese Melodie, denn Du bist Lara, und bei Dir kann sich erfüllen, was das Lied sich wünscht.“
Dann begann er leise zu singen:
“ Somewhere my love
There will be songs to sing
Although the snow
Covers the hope of spring
Somewhere a hill
Blossoms in green and gold
And there are dreams
All that your heart can hold
Someday we'll meet again, my love
Someday whenever the spring breaks through
You’ll come to me,
Out of the long ago
Warm as the wind,
Soft as the kiss of snow
Till then my sweet,
think of me now and then.
God speed my love
till you are mine again
Where are the beautiful days?
Where are the sleigh rides to dawn?
Where are the tender moments of splendor?
Where have they gone, where have they gone?
Somewhere my love
There will be songs to sing
Although the snow
Covers the hope of spring
Till then my sweet
Think of me now and then
God speed my love
Till you are mine again
Dann weinten sie beide. Sie standen nebeneinander vor dem Fenster, sahen schweigend hinaus und hielten sich an den Händen. Lange, lange standen sie so da. Als der Tag vergangen war, wußten sie, daß sie sich mehr als nur gern hatten.
***
Am nächsten Tag kam Mikhail wieder zum Unterricht. Lara begrüßte ihn mit einem Kuß auf die Wange. Es war das erste Mal, daß sie das tat. Vor der ganzen Klasse. Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er ihr sympathisch war und sie sich um ihn kümmerte. Aber nun wollte sie es allen auch zeigen. Mikhail war so überrascht, daß er es einfach zuließ.
Alle ihre Klassenkameraden waren vollkommen verblüfft, baß erstaunt. Niemand sagte etwas. Alle sahen sie mit aufgerissenen Augen und Mündern zu, wie Lara, die hübsche Lara, die garantiert jeden haben konnte, ‚Den Ruski‘ küßte. Ausgerechnet den, und dann auch noch vor der ganzen Klasse. Das gab’s ja wohl gar nicht. Das konnte doch einfach nicht wahr sein!
Selbst Kerstin, die ja schon eine ganze Weile wußte, daß ihrer Freundin ‚Der Ruski‘ nicht gleichgültig war, war davon überrascht.
„Du kannst den doch nicht einfach küssen“, zischte sie, als sie sich auf ihre Plätze setzten.
„Kann ich wohl. Hast Du ja gesehen“, erwiderte Lara schnippisch.
Dann kam der Lehrer herein und begann mit dem Unterricht, so daß Kerstin keine Möglichkeit hatte, den Disput fortzuführen. Ebensowenig beim Mittagessen, denn Lara setzte sich selbstverständlich zu Mikhail, während Kerstin sich zu den Mädchen aus ihrer Klasse gesellte.
Dafür bekam sie danach die geballte Ladung, als sie und Kerstin sich nach dem Essen in ihrem Zimmer trafen.
„Sag mal, Du hast doch wohl auch’n Knall, daß Du Dich so an Mikhail hängst. Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ausgerechnet der!“
Lara stemmte die Fäuste in die Hüften und sah Kerstin angriffslustig an.
„Was heißt hier eigentlich: Ausgerechnet der? Du kennst ihn doch gar nicht. Hast nicht die Spur einer Ahnung, wie der eigentlich ist. Aber mußt Du ja auch nicht. Ich mag ihn jedenfalls. Ich hab ihn sogar richtig gern. Er ist sowas wie mein Freund, und deshalb geb ich mich mit dem ab. Und genau deshalb geh ich auch jetzt rauf zu ihm und mach mit ihm Schularbeiten.“
Sprach’s, nahm ihre Sachen und knallte die Tür hinter sich zu.
Kerstin blieb erstaunt zurück. So energisch kannte sie ihre sonst so sanfte Freundin gar nicht. Anscheinend war doch was dran, an ‚Dem Ruski‘. Das würde sie jetzt rauskriegen.
Entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Turmzimmer. Ohne anzuklopfen ging sie hinein. Sie war ziemlich verblüfft, als sie die Beiden sah. Sie saßen nebeneinander am Schreibtisch und steckten die Köpfe über einem Schulbuch zusammen. Aber das war es nicht, was sie so verblüffte. Es war vielmehr Mikhails Aufzug, mit dem sie gar nicht gerechnet und den anfangs auch Lara so verblüfft hatte.
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