„Wenn Du Lust hast, kannst Du mich ja gelegentlich noch einmal besuchen“, sagte er leise und ohne sie anzusehen. „Jederzeit. Ich habe mich riesig gefreut, daß Du da warst. Es war eine Premiere, weißt Du. Der erste Besuch seit ich hier eingezogen bin.“
Sie sah auf ihre Hände, die er immer noch festhielt. „Mach ich bestimmt“, antwortete sie. „Es hat mir ziemlich gut gefallen bei Dir, und Du bist echt’n Super-Typ.“
Sie beugte sich vor und drückte ihm einen kleinen Kuß auf die Wange. Dann drehte sie sich um und lief eilig die Treppe hinunter.
***
„Wo warst Du denn?“ empfing Kerstin ihre Freundin als sie ins Zimmer kam. „Ich hab schon das ganze Haus nach Dir abgesucht und Dich nirgendwo gefunden.“
„Dann hast Du eben nicht das ganze Haus abgesucht. Im Turm oben warst Du nämlich nicht.“
Kerstin sah Lara mit erstaunt aufgerissenen Augen an. „Bist Du etwa bei ‚dem Ruski‘ gewesen?“ fragte sie ungläubig.
„War ich, falls Du nichts dagegen hast. Er hatte mich neulich eingeladen und hat mir echt russischen Tee gekocht. Den haben wir zusammen getrunken. Mit Warenije.“
„Mit was?“
„Warenije. Das ist so’ne Marmelade, die die Russen nehmen, um ihren Tee damit süß zu machen. Ist echt lecker. Mußt Du auch mal probieren.“
„Sag mal, tickst Du noch ganz richtig? Du rückst ‚dem Ruski‘ auf die Bude und trinkst Tee mit ihm? Wie abgedreht ist das denn?“
„Ich fand’s überhaupt nicht abgedreht. Das ist nämlich ‘n total netter Typ. Richtig süß ist der.“
„Also hast Du Dich doch in den verknallt.“ Kerstin schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet.“
„Was heißt verknallt? Das hört sich so theatralisch an. Ich find ihn ganz gut, das ist alles. Und weil er mich eingeladen hat und ich nichts besseres zu tun hatte, bin ich eben mal zu ihm raufgegangen. Das ist alles.“
„Und weiter?“
„Wie weiter? Nix weiter. Er hat Tee gekocht, wir haben zusammengesessen und den getrunken. Und dann bin ich wieder gegangen.“
Lara nahm ihre Freundin am Arm und zog sie mit sich auf ihr Bett.
„Du, der hat’s total gemütlich da oben“, sagte sie, als sie beide nebeneinander auf dem Bett saßen. „Richtig kuschelig. Und Du hätt’st mal seh’n sollen, wie cool der aussah. Überhaupt nicht so wie sonst immer. Barfuß, T-Shirt, Leinenhose, echt entspannt.“
„Und was sagt er so?“
Lara zuckte mit den Schultern. „Tja, was sagt er so? Eigentlich wenig. Viel geredet haben wir nicht. Meistens übers Teekochen. Und daß er Computerprogramme schreibt und damit anscheinend ‘ne Menge Geld verdient. Von sich selber hat er nichts erzählt. Außerdem, so lange war ich ja auch nicht da. ‘Ne Stunde vielleicht oder so. Aber er hat sich richtig gefreut, daß ich ihn besucht habe. Das konnte man merken. Ich sei die Erste gewesen, die jemals mit ihm geredet hat, hat er gesagt. Irgendwie hat er mir auch leid getan. Ich geh bestimnmt wieder mal zu ihm hin, das hab ich mir vorgenommen.“
Kerstin sah die Freundin an und schüttelte mit dem Kopf. „Mann, Mann, Mann, bei Dir hat’s ja ganz schön geklingelt.“
„Weiß ich nicht.“ Lara ließ sich nach hinten aufs Bett fallen und schob die Hände unter ihren Kopf. „Und wenn, wär das so schlimm?“
***
Von diesem Tag an mußte Mikhail nicht mehr alleine essen. Wenn Lara ihn im Speisesaal sah, setzte sie sich zu ihm. Fast immer saßen sie sich gegenüber. Geredet wurde über Belangloses, meistens über Dinge, die den Schulunterricht betrafen. Persönliches war nicht dabei.
Es gab auch keinerlei Annäherungsversuche. Zumindest nicht von seiner Seite. Lara hätte sich schon manchmal gewünscht, daß er vielleicht etwas zutraulicher sein könnte. Er mußte ihr ja nicht gleich um den Hals fallen und sie abknutschen oder sowas. Aber das tat er nicht. Meistens sah er sie nur an und lächelte. Lächelte sein unglaublich zärtliches Lächeln, das sie jedesmal dahinschmelzen ließ und das er offensichtlich nur für sie reserviert hatte.
Kerstin schenkte er dieses Lächeln nicht. Obwohl er auch zu ihr sehr freundlich war, wenn sie gelegentlich mit am Tisch saß. Leider war er dann noch stiller als sonst. Was der quirligen Kerstin ganz und gar nicht behagte. Sie fand ihn langweilig. Nett aber langweilig. Und sie konnte nicht recht verstehen, was ihre Freundin an ihm fand. Wenigstens nannte sie ihn nicht mehr ständig ‚Den Ruski‘. Das war ja auch schonmal was, fand Lara.
„Wie haben sie eigentlich in Rußland zu Dir gesagt?“ wollte sie wissen.
„Mischa“, antwortete er. „Alle, die mich gut kannten, haben Mischa zu mir gesagt.“
„Darf ich auch Mischa zu Dir sagen?“ fragte Lara schüchtern.
„Warum nicht?“ sagte er achselzuckend. „Schließlich kennen wir uns ja jetzt auch schon ein bißchen.“
„Ja, leider.“
Sie erschrak, als sie hörte, was ihr da herausgerutscht war. Das hatte sie nicht sagen wollen.
Mikhail lachte. „Wieso leider? Wär’s Dir lieber, Du würdest mich überhaupt nicht kennen?“
„Nein. Mir wär’s lieber, ich würde Dich ein bißchen besser kennen.“ Jetzt hatte sie gesagt, was sie gesagt hatte, also konnte sie das auch ruhig zugeben.
Er lächelte sie an. „Das ist aber nett, daß Du das sagst.“ Es sah so aus, als wolle er nach ihrer Hand greifen, aber im letzten Moment zog er seine Hand doch zurück. „Komm doch einfach mal wieder auf einen Tee vorbei“, sagte er stattdessen. „Dann können wir ja ein bißchen quatschen.“
Er nickte ihr noch einmal kurz zu, dann ließ er sie stehen und ging weg. Sie sah ihm nach und wünschte sich, er wäre noch geblieben. Als er durch die Tür zum Turm verschwand, ging sie hinüber zu Kerstin und den anderen Mädchen.
„Na, hast Du wieder mit ‚dem Ruski‘ geflirtet?“ fragte eins von ihnen.
„Wir haben zusammen Mittag gegessen und uns unterhalten. Was dagegen?“ gab sie schnippisch zurück.
„Was Du nur an dem Langweiler findest?“ meinte die Andere kopfschüttelnd.
Am nächsten Tag erschien Mikhail nicht zum Unterricht. Niemand kümmerte sich darum. Man nahm es zur Kenntnis, der Lehrer machte einen Vermerk im Klassenbuch und ging dann zur Tagesordnung über.
Als Mikhail sich auch im Laufe des weiteren Vormittags nicht sehen ließ und auch nicht zum Mittagessen auftauchte, wurde Lara unruhig.
„Was meinst Du, ob ich mal nach ihm sehen sollte?“ fragte sie Kerstin. „Vielleicht ist ihm was passiert.“
„Quatsch“, antwortete Kerstin barsch. „Was soll dem denn passiert sein? Wahrscheinlich hatte er keinen Bock auf Schule und hat mal’n Tag blau gemacht.“
„Glaub ich nicht“, gab Lara zurück. „Dafür halt ich den nicht. Das hat er doch noch nie gemacht.“
„Na, dann geh halt nachseh’n, dann weißt Du’s“, fertigte Kerstin sie ab und ließ sie stehen.
Lara hatte ein komisches Gefühl als sie die steile Wendeltreppe zu Mikhails Turmzimmer hinaufstieg. Zaghaft klopfte sie an seine Tür. Es kam keine Antwort. Sie öffnete die Tür und sah hinein. Mikhail war nirgendwo zu sehen. Der Schreibtisch war, wie schon bei ihrem ersten Besuch, unaufgeräumt, auf dem Boden lagen Kleidungsstücke verstreut und sein Bett war nicht gemacht. Beunruhigt trat sie ein und schloß die Tür hinter sich.
Dann hörte sie im Badezimmer die Toilettenspülung rauschen. Einen Moment später kam Mikhail heraus. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts und sah kreidebleich aus im Gesicht. Ohne sie zu bemerken, schlich er langsam hinüber zu seinem Bett und legte sich ächzend hinein.
Vorsichtig ging sie zu ihm hin. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie sah.
„Hallo Lara“, sagte er mühsam. Es war mehr ein Flüstern.
„Mischa, was ist denn los mit Dir?“ fragte sie besorgt. „Geht’s Dir nicht gut?“
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