Der Vater erschien natürlich nicht. Müller aber hatte für ein paar Tage Ruhe vor Ronnys Wutausbrüchen. Die damalige Klassenleiterin, die liebe Tammi, sagte zu ihm, als er sie über den Vorfall in Kenntnis setzte:
„Ja, bei mir hat er sich schon einmal vor Wut auf dem Fußboden gewälzt, weil ihm etwas nicht passte. Das ist ein Fall für den Psychiater.“
Als Müller die Klasse in ihrem 5. Schuljahr übernahm, konnte er erstaunt feststellen, dass Ronny außerordentlich belesen war. Besonders das Fach Geschichte hatte es ihm angetan.
Einmal korrigierte er Müller sogar mit verblüffend detaillierten Kenntnissen, und er als Geschichtslehrer musste ihm Recht geben. Müller mochte solche kleinen Genies, von denen er sogar noch etwas lernen konnte. Ronny brachte ihm sogar die Literatur mit, aus der er sein Wissen geschöpft hatte.
Doch dann geschah es, dass er während der großen Pause auf dem Schulhof wieder einen seiner unberechenbaren Wutanfälle bekam und einen Schüler mit Steinen bewarf, der ihn geärgert hatte. Alle, auch Müller, waren entsetzt.
Mit viel Geduld gelang es aber, seine Aggressivität ein wenig abzublocken. Er war einer der Schüler, der Müller die meiste Mühe kostete. Sollte er, obwohl er einmal an einer Funktionärsschulung teilgenommen hatte, in der FDJ-Leitung eine Funktion ausüben? Nein! Ronny war unausgeglichen und unzuverlässig. Als Kassierer hatte er im Jahr zuvor vollkommen versagt.
Die Mädchen seiner Klasse waren für eine Funktion sehr aufgeschlossen, so dass eine paritätische Zusammensetzung der FDJ-Leitung keine Schwierigkeiten bereitete.
Die Sitzung ging nach zwei Stunden zu Ende.
„Herr Müller, ich staune, mit welcher Verantwortung Ihre Schüler an die Fragen der Neuwahl der FDJ-Leitung heran gegangen sind“, kommentierte die Studentin ihre Eindrücke auf dem gemeinsamen Weg zur S-Bahn.
„Das Schuljahr ist gut angelaufen“’, dachte sich Müller und war zufrieden.
Zum Wochenende waren Müllers zu einer Gartenparty der Bekannten eingeladen worden, die ihm damals zu der Freundschaft mit dem tschechischen Journalisten Pavel verholfen hatte. Es war ein lauer Septembernachmittag, der zum Plaudern in freier Luft zwischen Büschen, grünem Rasen, Herbstblumen und den sich langsam bunt färbenden Blättern der Bäume einlud. Kaffee und Kuchen sorgten für eine familiäre Atmosphäre.
Bei Luise war es immer interessant, weil der Kreis, mit dem sie verkehrte, aus Schriftstellern, Theaterleuten und anderen Künstlern bestand. Das war eine andere Welt. Hier sprachen sie nicht DDR-üblich hinter vorgehaltener Hand, sondern die Probleme wurden offen auf den Tisch gelegt.
Neben Horst hatte der Leiter eines kleinen Berliner Amateurtheaters Platz genommen und ihn in ein interessantes Gespräch verwickelt. Er erzählte von den Stücken, die sie spielten. Diese waren manchmal so brisant, dass oft die Furcht bestand, sie nicht mehr aufführen zu können. Manchmal entstanden sie aus Diskussionen mit den jugendlichen Darstellern, die das Theater als einzigen Ort ansahen, wo sie ihren DDR-Frust loswerden konnten.
So griff ein Stück den Fall einer Darstellerin auf, deren Eltern nach außen hin gute Parteigenossen waren. In ihrer Ehe aber stimmte gar nichts. Den Kindern - sie hatte noch einen Bruder - erlaubten sie nicht, die Fernsehprogramme des Westens anzuschauen. Lagen die Kinder jedoch im Bett, sorgte ein kleiner Knopfdruck für die Republikflucht im Wohnzimmer. Die Doppelzüngigkeit ihrer Eltern wurmte das Mädchen. Als dann auch noch ihr Vater, Parteisekretär in einem Volkseigenen Betrieb (VEB), mit einer ihm unterstellten Genossin fremdging und sich daraufhin die Eltern scheiden ließen, brach für sie eine Welt zusammen.
Diesen situativen Augenblick spielten die Jugendlichen in Form einer Theateretüde nach. Dabei kam die interessante Idee auf, das Stück so weiter zu gestalten, dass das Mädchen als Gegenreaktion auf ihren Frust zu Punks Beziehungen anknüpft. Die Schwierigkeit war, dass die meisten Darsteller sich noch nie gründlich mit dieser Außenseitergruppe beschäftigt hatten. Die Gespräche mit solchen Jugendlichen brachten viele aufschlussreiche Aspekte zu Tage. Sie lernten einen Punk kennen, der ein guter und gewissenhaft arbeitender Facharbeiter war, aber wegen seiner bunten Frisur ständig Ärger mit dem Lehrmeister bekam.
Punks waren beim Staat nicht beliebt. An staatlichen Feiertagen durften sie nicht in das Stadtzentrum kommen, um den öffentlichen Frieden nicht zu stören.
Weil das Stück solche Probleme aufgriff, die es offiziell gar nicht geben durfte, fand es besonders bei Jugendlichen ein großes Echo.
„Ja“, atmete Müllers Gesprächspartner plötzlich tief, „momentan haben wir ein Problem. Wir brauchen unbedingt einen Pianisten im Theater. Derzeit hilft uns ein Student von der Musikhochschule, aber das ist nur eine Übergangslösung.“
Müller kam plötzlich auf eine Idee. Er dachte an die Repressalien, die er im Vorjahr von der Chefin hatte erdulden müssen. Wenn es hart auf hart kommen sollte, war das Theater ein möglicher Rettungsanker.
Durch die von allen Lehrern abgeforderte Gefährdetenkartei, die er auf keinen Fall gewissenhaft anfertigen wollte, um einige Schüler zu schützen, waren die Konflikte schon vorgezeichnet.
Er sagte dem Theaterleiter deshalb bewusst, dass er auf dem Klavier zu Hause war und ihn Theaterarbeit sehr interessierte. Dr. Sastre, der Theaterwissenschaft studiert hatte und Leiter des Theaters war, lud daraufhin Müller zu einer Vorstellung ein, die in der kommenden Woche stattfinden sollte. Anschließend sollte er seine künstlerischen Fähigkeiten demonstrieren.
Einen Tag vor der Klassenelternaktivwahl erschien Müller mit seiner Frau Carolin zur Aufführung eines Stückes des Jugendtheaters. Müller folgte der Handlung etwas unkonzentriert. Er musste an die Wahl denken, an der seine Schüler und die Chefin anwesend sein würden und an sein nach der Vorstellung erwartetes Vorspiel. Dr. Sastre war von Müllers Fähigkeiten beeindruckt.
„Da versauern und vergeuden Sie Ihre Talente in der Schule?! Wenn Sie wollen, können Sie bei uns mit einigen Stunden einsteigen.“
„Ja“, antwortete Müller entschlossen, „das mache ich.“
„Können Sie montags die beiden Kindergruppen musikalisch betreuen? Wenn Sie allerdings Parteiversammlung haben …“
„Nein“, fiel ihm Müller ins Wort, „ich bin kein Parteigenosse und habe Zeit.“
Ja, am Montag hatten doch die Parteileute immer ihre Versammlung. Der andere Teil der Bevölkerung konnte dann einmal unbeobachtet seinen Beschäftigungen nachgehen, ha, ha, ha.
Schon in der kommenden Woche konnte er anfangen. Müller war einverstanden.
Damals ahnte er noch nicht, wie wichtig dieser Schritt für ihn einmal werden sollte. Das Angebot vom Theater war zur rechten Zeit gekommen, denn bereits am nächsten Tag bekam Müller in der Klassenelternversammlung seinen ersten Nackenschlag im neuen Schuljahr.
Die Klassenelternversammlung lief gut an. Fünfundneunzig Prozent aller Eltern waren erschienen. Für die Konferenz der Eltern einer 10, Klasse war die Befolgung der Einladung ein großer Erfolg für Müllers Lehrertätigkeit und kaum zu übertreffen. Von den eingeladenen Schülern fehlte nur ein Mädchen.
Die Elternaktivvorsitzende verlas nach dem vorher abgesprochenen Programm den Rechenschaftsbericht über die Tätigkeiten des Klassenelternaktivs im vorangegangenen Schuljahr und endete mit der Verpflichtung des KEA, im kommenden Schuljahr alles für die weitere Stärkung des Sozialismus zu unternehmen.
Müller dankte allen Eltern, die im Aktiv mitgearbeitet hatten, und überreichte jedem Mitglied einen Strauß Herbstastern, die er aus eigener Tasche bezahlt hatte. Dann erläuterte er die Aufgaben des neuen Schuljahres, sprach davon, dass es ganz gut angelaufen war und sich die Arbeitseinstellung der Schüler im Vergleich zum Vorjahr verbessert hat. Er sprach von den Aufgaben der Vorbereitung auf die Prüfungen.
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