Er denkt, dass sich auch seine Kollegen dem anschließen.
Dieser ach so linientreue hartgesottene Genosse wurde einige Monate später unehrenhaft entlassen, weil er Gelder unterschlagen hatte.
Als er nach dem entscheidenden Freitag in der Abteilung Volksbildung vorsprach, überreichten sie ihm ein Schreiben, das die Erlaubnis enthielt, ausreisen zu dürfen. Grund zum Jubeln gab es aber immer noch nicht. Jetzt musste er zur Volkspolizei. Wieder wurden Fragen nach ganz persönlichen Dingen gestellt. Es war peinlich und erniedrigend. Wieder kam in Müller dieses Schuldgefühl, etwas ganz Schlimmes zu tun, hoch. Endlich, endlich gaben sie ihm den offiziellen Antragsvordruck für die befristete Ausreise in das Ausland, den er sofort auszufüllen hatte. Er trug die Adresse seiner Tante ein, den Grund seiner Reise und gab den Antrag zusammen mit der Geburtsurkundenkopie und der Lebendmeldung vom Einwohnermeldeamt seiner Tante sowie zwei Passbilder für den Reisepass ab. Kurz vor den Herbstferien sollte er sich dann wieder melden.
Aus diesen Erfahrungen heraus nahm sich Müller vor, bei einer Befragung über seine Schülerin Regina nur günstig für sie zu sprechen.
Bis zu den Herbstferien waren aber an der Schule noch die hektischsten Tage zu überstehen: die Vorbereitung und die Wahl des Klassenelternaktivs und der FDJ-Leitung.
Müller traf sich deshalb in der ersten Woche nach dem Schulbeginn mit seinem Elteraktiv, dem sich auch das der Parallelklasse zugesellte. Das hatte er mit der anderen Klassenlehrerin so vereinbart.
Auf diese Art konnten sie konstruktiv die Abschlussfeier am Schuljahresende vorbereiten und bereits jetzt wichtige Aufgaben verteilen, die eine Organisation der Räumlichkeiten, das Essen, die kulturelle Umrahmung, die finanzielle Frage, die Disco und anderes betrafen.
Die Frage des Raumes, in dem die Feier stattfinden sollte, war schon geklärt worden. Eine Mutter arbeitete als Leiterin einer HO-Gaststätte (Handelsorganisation der DDR), die über einen für diesen Anlass würdigen Saal verfügte. Sie wollte sich auch um das leibliche Wohl kümmern. Ein Kollege hatte einmal Müller zugeflüstert:
„Wer als Klassenlehrer die Möglichkeiten seiner Eltern nicht nutzt, ist selbst daran schuld.“
Der Saal sollte die Schule nichts kosten. Trotzdem musste sechs bis acht Wochen vorher der Vertrag abgeschlossen werden. Bis zum 30. Juni 1989 sollten alle Gelder für das Buffet, die Getränke und andere Kosten von den Eltern eingezahlt sein. Man dachte so an 15,-- bis 20,-- Mark.
Über die Disco gab es immer noch die Debatte, ob es viel oder wenig Westmusik sein sollte. Müller zog es vor zu schweigen.
„Wie steht das denn eigentlich mit den Gästen, die aus der BRD anreisen? Wie viele Gäste erlauben wir überhaupt pro Elternteil?“, erkundigte sich eine Mutter.
Bei der Jugendweihefeier im großen Saal eines Betriebes war vor zwei Jahren extra darauf hingewiesen worden, dass der Zutritt für Westbürger nicht gestattet sei. In der Gaststätte war das aber kein Thema. Die Anzahl der Personen musste nur aus Kapazitätsgründen eingeschränkt werden.
Nach der Klärung der gemeinsamen Fragen trennten sich die Elternaktive wieder.
Müller musste nun herausfinden, wer im neuen Schuljahr von den Eltern im Aktiv mitarbeiten wollte. Auch das war schnell erledigt, da es wieder die bewährten Mitglieder vieler Schuljahre waren. Durch den Vater einer neuen Schülerin hatte er nun zwei Genosseneltern im Aktiv, was eine Forderung des Schuljahresarbeitsplanes erfüllte. Kein Elternaktiv an der Schule ohne Genossen, und wo ein Genosse war, war auch die Partei und manchmal auch etwas mehr. Aber das sollte Müller im Laufe des Schuljahres selbst erfahren. Zu diesem Zeitpunkt war er zunächst einmal froh, willige Eltern gefunden zu haben, die gemeinsam mit ihm die anstehenden Aufgaben und Probleme lösen wollten.
Der neu hinzugekommene Vater erkundigte sich, ob Regina Morose noch FDJ-Sekretär bliebe, da es ja wohl untragbar wäre, wenn die Tochter eines republikflüchtigen Arztes weiterhin diese Funktion ausübte. Müller entgegnete, Regina sei die gewählte Vertreterin der FDJ-Gruppe der Klasse, und nur sie könnte jemanden von einer Funktion abberufen. Außerdem sei ja am Ende des Monats FDJ-Leitungswahl, die über den neuen FDJ-Sekretär befinden wird. Einen Tag nach dieser Sitzung wurde der Schule vom amtierenden Schulrat mitgeteilt, dass der EOS-Antrag für Regina Morose gegenstandslos geworden sei.
„Wissen Sie, Herr Müller, ich nehme das ganz gelassen, da ich damit schon gerechnet habe“, reagierte Regina auf diese Information.
Dann rannte sie hinaus, und Müller hörte sie schluchzen.
„Ach, wenn ich dir nur helfen könnte, Mädchen“, dachte er sich. Ihm fiel der Begriff einer vergangenen Zeit ein: Sippenhaft! Auf keinen Fall durfte sie in der Klasse oder von Lehrern diskriminiert werden.
Genau eine Woche später war nach dem Unterricht die FDJ-Aktivtagung. Alle leitenden Funktionäre der Klassen 9 bis 10 sowie die Mitglieder der GOL (Grundorganisationsleitung der FDJ), die Klassenleiter und der Direktor nahmen obligatorisch an dieser Sitzung teil. Die Schüler der achten Klasse waren im September noch Pioniere und wurden erst im Laufe des Schuljahres gemeinsam Mitglieder der FDJ. Nur wenige entzogen sich diesem freiwilligen Zwang.
Der GOL-Sekretär, ein Schüler der 10. Parallelklasse, wiederholte die Worte der Direktorin auf dem Pädagogischen Rat:
Die politisch-ideologische Arbeit musste verstärkt werden. Deshalb sollten in den Gruppen stets politische Gespräche geführt werden, die sich mit den Grundlagen des Sozialismus beschäftigen. Um ein geschlossenes Auftreten der FDJ-Leitungen zu ermöglichen, war das Erarbeiten eines gemeinsamen Standpunktes erforderlich.
Gleichzeitig geziemte es der FDJ, in der Schule noch mehr präsent zu werden. Er schlug vor, dass in einem Wettbewerb das Tragen des FDJ-Hemdes während der Schüleraufsichten, bei Demonstrationen und Appellen bewertet wird.
Die FDJ sollte auch direkten Einfluss auf die Lernhaltung und die Meinung in der Klasse nehmen. Für viermal im Jahr wurde die Durchführung des FDJ-Studienjahres zu Fragen der marxistisch-leninistischen Philosophie oder wahlweise zur Biographie von Marx und Engels festgelegt, an dem alle FDJler teilzunehmen hatten. In den sonstigen Mitgliederversammlungen konnte unter anderem der 70. Jahrestag der Novemberrevolution und die Gründung der KPD gewürdigt werden. Politische Gespräche sollten immer mit schulischen Problemen gekoppelt werden. Dazu bot sich das im Mai stattfindende Pfingsttreffen der FDJ an. Dieses Ereignis erforderte, dass sich jede Klasse überlegt, wieviel Geld sie für das gute Gelingen des Treffens spenden könnte.
Plötzlich platzte Regina Morose, die noch amtierende FDJ-Sekretärin aus Müllers Klasse, in den Vortrag des GOL-Sekretärs hinein:
„Welchen Sinn hat denn dieses Treffen?
Warum sollen wir schon wieder spenden für eine Sache, wo Gelder sinnlos verschleudert werden, die anderswo dringender gebraucht werden?
Gibt es nicht genug Menschen auf der Welt, die unsere Hilfe benötigen? Wenn ich daran denke: Jeden ersten Mai diese Winkelemente, die nachher von den Leuten achtlos zertreten werden!
Ich sehe nicht ein, dass ich für so etwas auch noch Geld spendieren soll. Würdet ihr sagen: Das ist für Opfer von Katastrophen, O. K., aber für so einen Quatsch, nein!“
Die Direktorin, Genossin Sanam, schaute mit grimmigem Blick zu Müller hinüber. Der wollte aber nicht darauf öffentlich reagieren, weil er erstens seiner Schülerin zustimmte und zweitens als Gast nicht die Leitung dieser Tagung hatte. Sollten sich doch die Genossen und die gewählten Funktionäre damit auseinander setzen.
Die Argumente der Direktorin, die dann endlich in dem folgenden peinlichen Schweigen das Wort ergriff, wirkten phrasenhaft und wenig überzeugend:
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