Hier trifft sich in Berlin die Jugend des ganzen Landes. Gleichzeitig - das durfte nun auch wieder nicht fehlen - ist das Treffen ein Beitrag für den Frieden. Wieso, erklärte sie nicht.
Als nun auch noch andere FDJler in Reginas Kerbe schlugen, wurde das Thema kurzerhand mit der Bemerkung abgebrochen, es sollte in den FDJ-Gruppen weiter diskutiert und die Höhe der Spende festgelegt werden. Wir könnten uns schließlich nicht als einzige Schule von der Spendenaktion ausschließen. Weitere Ausführungen lenkten von diesen Widersprüchen ab.
Mit Hinweisen auf die jährlich sich wiederholende Messe der Meister von Morgen (MMM), auf der kreative Eigenleistungen und Erfindungen der Schülerinnen und Schüler präsentiert und bewertet wurden, den Pioniergeburtstag am 13. Dezember, den auch die FDJler mitgestalten sollten, den Geburtstag der FDJ am 13. März, das Solidaritätskonzert kurz vor Weihnachten und den Ablauf der bevorstehenden FDJ-Wahlversammlungen wurde die FDJ-Aktivtagung beendet.
Beim Verlassen des Sitzungsraumes zischte die Direktorin Herrn Müller zu:
„Konntest du deine Schülerin nicht in die Schranken weisen?“
„Wieso? Hatte ich denn die Leitung der Tagung?“
„Übrigens wünsche ich, dass du zur Elternaktivwahl alle Schüler deiner Klasse einlädst, damit gleich von Anfang an das Schuljahr gut anläuft. Ich selbst werde anwesend sein. Hast du schon ermittelt, welches Prädikat (das in einer Zensur ausgedrückte Gesamtprüfungsergebnis) jeder Schüler deiner Klasse erreichen will?“
„Ja, gleich am ersten Tag. Aber nur zwei Drittel haben schon diese konkrete Zielrichtung. Außerdem kontrolliere ich regelmäßig die Hausaufgabenhefte, ob alle Aufgaben eingetragen wurden.“
Das hatte ihm die Direktorin kurz vor dem Ende des letzten Schuljahres in einem Klassenleitergespräch angeordnet, da manche Hausaufgabenhefte unsauber geführt, bemalt und zerfleddert waren. Müller fand das zwar für eine zehnte Klasse etwas kindisch, stimmte aber, weil er an einer ordentlichen Lernarbeit seiner Anvertrauten interessiert war, mit der Forderung überein.
Diese Übereinstimmung gehörte zum Prinzip des „einheitlich handelnden Pädagogenkollektivs“. Müller hatte in seiner Praxis oft festgestellt, dass ein übereinstimmendes Vorgehen aller Lehrer sich positiv auf die Lernhaltung der Klasse auswirkte.
Während des Geschichtsunterrichts teilte er den Schülern seiner Klasse die Einladung zur Elternaktivwahl mit. Ihr Erscheinen sei Pflicht.
Es ginge schließlich um den erfolgreichen Abschluss der Prüfungen.
Frau Sanam selbst wolle den Eltern und Schülern einige wesentliche Dinge sagen.
Nach dem Unterricht wurde Müller ins Sekretariat neben dem Direktorenzimmer gerufen. Dort wartete eine junge Frau auf ihn, Studentin im 5. Studienjahr an der Humboldt-Universität. Sie sollte bei ihm ihr großes Schulpraktikum und Staatsexamen absolvieren.
Müller hatte Freude an der Mentorentätigkeit, weil es ihm Spaß machte zuzusehen, wie sich ein junger Mensch zu einem guten Lehrer entwickelte. Das Urteil über die bisherigen wenigen Unterrichtsstunden der jungen Frau Rahn an Praktikumsschulen der vorherigen Semester war nicht gerade günstig: Sie sei zu inkonsequent und schüchtern. Das Ergebnis ihrer Unterrichtstätigkeit sei nur befriedigend.
***
Müller hatte als Student während des Praktikums kein großes Verständnis bei einer Mentorin gefunden. Sie erwartete in ihm schon den perfekten Lehrer und ärgerte sich, wenn er ihren Unterrichtsstil nicht kopierte. Die Auswertungen seiner Unterrichtsversuche waren dann auch dementsprechend. Er bekam Albträume. Ausgerechnet bei ihr sollte er im Fach Musik sein Staatsexamen absolvieren. Die Examensstunde war fast eine Katastrophe, und er rutschte gerade noch so durch die Prüfung. Damals war jede Unterrichtsstunde unbedingt mit einer die Schüler motivierenden Problemstellung zu beginnen. Müller hatte aber die Aufgabe, ein Lied zu behandeln, aus dem sich eine solche nur schwer ableiten ließ. Es war weder rhythmisch kompliziert, noch bot der Text weltbewegende Probleme. Müller stellte aber eine so dämliche „Problemfrage“, nach der die Schüler denken mussten, er hätte einen „Tick hinterm Pony“.
Später musste er als gestandener Lehrer über seine ersten Schritte lachen. Eines nahm er sich jedoch vor, und deshalb hatte dieses Erlebnis auch sein Gutes: Niemals wollte er irgendeinem Studenten, der zu ihm gesandt wurde, den Mut zum Lehrerberuf nehmen, geschweige ihn schon als vollkommen ansehen.
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Müller drückte der jungen Frau herzlich die Hand und sagte ihr:
„Ich freue mich, Sie an unserer Schule begrüßen zu können.“
Da sie auch die Arbeit eines Klassenleiters kennen lernen sollte, lud er sie zur FDJ-Leitungssitzung am folgenden Tage und zur Elternaktivwahl ein.
In der Leitungssitzung wurde zuerst darüber diskutiert, ob Regina noch weiter ihre Funktion als FDJ-Sekretär ausüben wollte. Sie sagte, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt und auch kein Interesse mehr an dieser Funktion hat. Jeder verstand ihre Beweggründe, obwohl Müller es sehr bedauerte. Es gab in seiner Klasse keine gewissenhaftere und ehrlichere Schülerin.
Gab es einen Ersatz für sie? Wer verstand es, die Leitung so gut zu führen, interessante Veranstaltungen und gesellschaftlich nützliche Einsätze zu organisieren oder sich für seine Mitschüler zu engagieren?
Fähigkeiten zur Leitung hatte der Dicke, Dirk Amigo. Aber der wollte partout nicht in die FDJ-Leitung. Dafür beeinflusste er die Klasse lieber anderweitig.
Jens Mespil wurde wegen seiner Armeemasche nicht sehr geachtet.
Jens Schüttel sollte in der FDJ-Leitung seinen Platz behalten, dachte sich Müller und sprach es laut aus. Im Hinterkopf spielte er mit dem Gedanken, dem stillen, bescheidenen und begabten Jungen aus christlichem Elternhaus einen Besuch der Erweiterten Oberschule zu ermöglichen. Aber den Grund nannte er natürlich nicht, als er ihn empfahl.
Auch sein naturwissenschaftliches Talent in der Klasse, der durch sein überlautes Sprechorgan manchen Lehrer zur Weißglut brachte, Frank Zahrich, sollte durch seine Tätigkeit in der Leitung die Möglichkeit erhalten, zur EOS zu kommen. Vielleicht gelang es durch Aufgaben, die er für die Klasse erfüllen sollte, ihn von seinen egoistischen Ambitionen abzubringen. Müller hatte an Franks Verhalten festgestellt, dass er deshalb oft unausgeglichen und provozierend reagierte, weil er im Unterricht einfach unterfordert war. Er begriff außerordentlich schnell und besaß das, was Müller bei anderen Schülern vermisste, nämlich Kreativität. Sein Egoismus zeigte sich in einer gewissen Rücksichtslosigkeit Mitschülern gegenüber, die nicht so intelligent waren wie er. Die Eltern arbeiteten als wissenschaftliche Mitarbeiter in der Akademie der Wissenschaften. Der Vater hatte als Parteiloser die Promotion erreicht. Die Mutter war schon seit Jahren die engagierte Elternaktivvorsitzende seiner Klasse und auch nicht Mitglied der Partei.
Die anderen Jungen …? Wer kam da in Frage? Etwa Ronny Kowar? Der Vater war in der SED und von Anfang an Mitglied des Elternaktivs. Ronny war ein unmöglicher Junge. Müller kannte ihn schon seit der ersten Klasse, das heißt genauer von den Ferienspielen im Schulhort.
Damals unternahm Müller mit der ihm zugeteilten Kindergruppe eine Waldwanderung. Auf dem Rückweg bekam Ronny plötzlich einen Bock und wollte einfach nicht mehr mit der Gruppe weiterlaufen. Das Mittagessen im Hort stand schon bereit, und die Kinder waren hungrig. Das störte Ronny nicht im Geringsten.
Als Müller ihn an die Hand nahm und hinter sich herzog, schäumte Ronny vor Wut:
„Das erzähle ich alles meinem Vater. Der wird Sie aber verkloppen!“
Müller dachte nur amüsiert:
„Ja, ja, die Wut des kleinen Mannes ...“
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