„Mit der Zeit gehen!“, entrüstete sich Luise. „Die Bauern verschleudern ihr gutes Land wie die Huren ihren Körper, von der Ehre mal ganz zu schweigen. Und am Ende wundern sie sich, wo alles geblieben ist, wenn sie dann das ganze schöne Geld für moderne Fernseher, Computergedöns und viel zu große Autos rausgeschmissen haben. Geht doch heutzutage alles ruck zuck kaputt und dann stehense da: kein Geld mehr und auch kein Land mehr, um was zu verdienen.“
„Ja ja“, pflichtete Erich ihr bei. „Und dann geht Haus und Hof drauf. Früher habense wenigstens nur alles versoffen, heute kaufense sich tot und schmeißen hinterher alles auf'n Müll. Und unsere Urenkel können dann sehen, wiese damit fertig werden.“
Luise seufzte. „Und keiner steht auf und tut was.“
„Och“, meinte Erich. „Die Jungens vonne Windkraftgegner, die machen ja schon was los. Und die wissen auch, was sie wollen und nicht nur, was sie nicht wollen.“
„Ja ja“, erinnerte sich Luise an die Anfänge der Grünen in den Achtzigern. „Wir sind alternativ. Wir sind dafür, dass wir dagegen sind.“
Erich nickte eifrig und fiel dann mit ein: „Atomkraft, nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“
Die Tür ging auf und Martina brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Stück Platenkuchen für jeden.
„Oh, hier wird man ja bedient wie inne Gastronomie.“, versuchte Erich gut Wetter zu machen.
„Ja, und dabei ganz ohne zu bezahlen.“, erwiderte Martina schnippisch und servierte vorbildlich die kleine Kaffeemahlzeit, ohne es jedoch zu versäumen, mit ihrem ganzen Körper auszustrahlen, wie lästig ihr Erichs Besuch war. Das tat sie nahezu immer, aber Erich besuchte Luise trotzdem regelmäßig, denn sie war als nächste Nachbarin eine der Wenigen, die noch aus der alten Zeit übrig geblieben war und er hatte sie stets verehrt und bewundert. Und begehrt hatte er sie wie keine andere, doch sie hatte ihn nie erhört.
Schröttinghausener Straße, Mittwoch, 14. September 2016
Das Mittagessen lag Luise schwer im Magen, obwohl Martina nicht besonders fettig kochte, aber Erbsen vertrug sie nicht mehr so gut und zusätzlich Möhren zu schälen, zu zerkleinern und zu schmoren, war Martina zu viel Arbeit gewesen. Luise beklagte sich nicht, denn Martina hätte ohnehin geantwortet: „Dann iss eben nicht so viel, bist sowieso ein bisschen voll um die Hüften.“
Auch solche Bemerkungen schluckte Luise herunter, obwohl Martinas Becken definitiv das Ausladendere war. Ein bisschen gerundet, klein und kompakt war die alte Frau schon als junges Mädchen gewesen und ihr Leben lang so geblieben, denn sie hatte nie hungern müssen, weder während des Zweiten Weltkrieges noch in der Nachkriegszeit. Nur hatte sie angefangen, auf ihre Ernährung zu achten, als sie gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts aufkommendes Sodbrennen bei sich beobachtete, wenn sie zu fettig oder mehr als ein Stück Torte gegessen hatte. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die noch unter siebzigjährig einem schweren Magenleiden erlegen war, mit entsetzlichen Schmerzen, häufiger Übelkeit, dem Erbrechen von Blut und einer fortschreitenden Entkräftung. Gänzlich ohne Lebensfreude hatte ihre Mutter sich die letzten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens durch die Tage geschleppt und Luise vermutete, dass sie die frühen Warnsignale ignoriert und einfach weitergemacht hatte mit der guten, bäuerlichen, ostwestfälischen Kost: in Schmalz gebratenes Fleisch, zerlassene Butter an jedem Gemüse, herrlicher, selbst gebackener Kuchen, fettige Saucen und Rahmsuppen. Dazu häufig Kohl und Hülsenfrüchte, Zwiebeln und saure Äpfel. Luise hatte anfänglich auch so gekocht, aber als sie merkte, dass es in der Magengegend zwickte und sie sauer aufstoßen musste, fragte sie ihren Hausarzt, worauf sie achten müsse und ab sofort gab es weniger Gebratenes, viel gedünstetes Gemüse, leichtere Saucen zu den Salzkartoffeln, höchstens ein Stück Kuchen am Nachmittag und allerhöchstens vier Tassen Kaffee als Tagesdosis. Damit war sie nun ziemlich weit gekommen, ohne Magengeschwüre, Diabetes, Rheuma oder Gicht. Wenn nur Martina etwas rücksichtsvoller wäre. Sie legte sich, so wie sie war, aufs Bett und schloss die Augen. Immer noch lag ein feiner Duft in ihrem Schlafraum. Sie hatte schon Weichspüler für die Wäsche benutzt, als alle anderen darüber noch abfällig die Nase gerümpft hatten, aber in ihrem Schlafzimmer hatte schon damals die Wäsche ihr zartes Parfum verströmt, so dass sie sich zwischen den Laken gefühlt hatte, als habe jemand sie auf einer paradiesischen Blumenwolke gebettet. Das mit dem Weichspüler hatte Martina so beibehalten, auch wenn die Zusammensetzung der Duftstoffe heute viel süßlicher war als damals. Vor allem, wenn Martina bügelte, suchte Luise das Weite. Der intensive Geruch kitzelte unangenehm am Gaumenzäpfchen und verursachte eine leichte Übelkeit. Im kalten Zustand roch es jedoch angenehm sauber und frisch und so hatte sie es immer haben wollen und auch gehabt.
Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht, den sie durch die geschlossenen Lider wahrnahm. Luise zuckte zusammen und öffnete reflexartig die Augen. Wie eine bedrohliche Erscheinung stand Martina vor ihrem Bett und schimpfte: „Was liegst du da mit deinen guten Sachen auf dem Bett rum? Das wird doch alles kraus! Zieh wenigstens das Kleid aus und deck dich anständig zu!“
Luise wäre gern einfach liegen geblieben, aber sie gehorchte, damit die Situation nur schnell vorüberging und sie in Ruhe ihr mittägliches Nickerchen halten konnte. Rüde und mit eckigen Bewegungen half ihr Martina beim Entkleiden und hängte das Kleid auf einem Bügel an den Schrank. Dann schlug sie die Bettdecke zurück, hob Luises Füße hoch, damit sie schneller in die Waagerechte kam und stopfte um sie herum die Bettdecke fest, als wolle sie sie im Bett fixieren, obwohl sie ganz genau wusste, dass Luise die Decke lieber locker auf sich liegen hatte, so dass sie auch mal einen Arm oder ein Bein darunter hervorstrecken konnte. Früher hätte sie sich so etwas von ihrer Tochter nicht bieten lassen, aber jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.
Außerdem befürchtete sie, wenn sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu sehr reizte, am Ende von ihnen misshandelt zu werden. Sie könnten sie auch in ein Pflegeheim abschieben, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern, denn lieber wollte sie sterben, als die Jahre, die ihr blieben in so einer entmenschlichten, unpersönlichen Umgebung frei von jeder Privatsphäre und Selbstbestimmung dahinzuvegetieren. Darum wollte sie auch um jeden Preis verhindern, dass etwas von ihrem schief hängenden Haussegen nach außen drang. Möglicherweise wären Martina und Manfred darüber derartig verärgert, dass sie nicht lange fackeln würden und sie in ein Pflegeheim verfrachteten. Davon abgesehen hatte Luise einen guten Ruf zu wahren; kein noch so kleiner Skandal sollte ihre Familienehre beschmutzen. Selbst wenn Martina und Manfred auszögen und eine professionelle Pflegekraft sie so versorgen und verwöhnen würde, wie es ihren Wünschen entsprach, würde sie die Schmach nicht ertragen, als Mutter versagt zu haben und die Familie auseinanderbrechen zu lassen. Sie fragte sich, warum Martina so gänzlich anders geworden war, als sie es sich als Mutter erträumt hatte. Als Baby war sie so niedlich wie ein Püppchen gewesen und Luise hatte sich ihre Zukunft ausgemalt: ein Mädchen mit der Anmut einer kindlichen Shirley Temple, ein Backfisch wie die junge Romy Schneider, eine Braut wie Grace Kelly und eine Dame von Welt wie Jacky Kennedy.
Als Kleinkind hatte sie Martina herausgeputzt: niedliches Kleidchen mit gestärkter Spitze und Rüschen, im Sommer aus Leinen und im Winter aus leuchtend blauem Samt oder sie hatte weiße Angora-Jäckchen gestrickt und Mützchen gehäkelt, die sie farbig bestickte oder mit Seidenblumen verzierte. Alle erdenklichen Lackschuhe hatte Martina besessen und nichts war ihr für ihr Töchterchen zu kostspielig gewesen. In der Sportkarre hatte sie ihr Mädchen im Dorf spazieren gefahren, und sie wusste genau, wer neidisch und missgünstig hinter der Gardine lauerte, wenn sie ihren kleinen Prachtengel öffentlich präsentierte.
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