„Nee, darauf hat sie immer aufgepasst. Von zu viel Kuchen bekommt sie Sodbrennen.“
„Ja und dick war sie ja auch nie.“
„Na ja, aber auch nicht gerade 'ne Gazelle.“
„Manch einer wäre froh, wenn er sich so gut halten würde. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?“
„Zweiundneunzig. So alt werde ich bestimmt nicht. Manchmal frage ich mich, warum die nicht endlich stirbt. Schließlich will ich auch noch ein bisschen was vom Leben haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind. Aber kaum sind die Rangen selbstständig, machen die Eltern einen verrückt.“
„Aber deine Kinder sind doch schon seit Jahren aus dem Haus.“, wunderte sich Christiane.
„Und meine Mutter dreht schon seit Jahren durch.“, entgegnete Martina. „Dann will sie Kaffee zum Kuchen, dann lieber wieder Tee, dann tut's der Schließmuskel nicht mehr, aber Windeln will sie nicht, weil dann die Kleider nicht mehr sitzen, dann muss ich ihr dauernd ihre Wurstlocken aufdrehen, die schon seit dreißig Jahren keine mehr trägt, dann ihre Küche putzen, weil sie sich unbedingt abends noch ein Schnitzel braten muss und den ganzen Fliesenspiegel mit Fett voll spritzt. Ich hab' das so satt. Sie tut immer wie 'ne feine Dame, aber benimmt sich wie ein Kindergartenkind. Und auch nur so wird man mit ihr fertig. Ich sage es immer wieder: Alte Leute sind wie kleine Kinder und mit denen kenne ich mich aus, schließlich bin ich gelernte Erzieherin.“
„Na, dann hast du sicher alles super im Griff.“, stellte Christiane schmunzelnd fest und Martina erwiderte: „Man wurschtelt sich so durch. Was muss ich bezahlen?“
„Sechs fünfzig.“
Sie legte das abgezählte Geld auf den Tisch und verließ so schwerfällig den Laden, als müsste sie zwei übervolle Körbe tragen.
„Ist sie endlich weg?“, rief Volker aus dem Café.
Christiane stellte sich grinsend in den Türrahmen. „Das Meerschweinchen krabbelt zurück in seinen Stall.“
„Welches Meerschweinchen?“, fragte Hans-Werner.
„Sickendieks Martina. Hast du dir mal die Haare von der angeguckt?“
„Ich guck die lieber gar nicht an, erst recht nicht die Haare. War schon schlimm genug, ihr dummes Gerede mit anhören zu müssen. Ich wusste gar nicht, dass es Luise so schlecht geht.“
„Das ist ja auch Quatsch.“, erklärte Volker. „Luise sieht nicht nur aus wie die Queen, sie ist auch im Kopf noch genauso fit. Noch vor zwei-ein-halb Jahren ist sie mitten im Advent um elf Uhr abends von Krietemeiers zu Fuß nach Hause gegangen, in Nylons, Pumps und Persianer, weil sie Angst hatte, Martina zu wecken, wenn die sie so spät noch abholen sollte.“
„Krietemeiers im Nagelsholz?“
„Ja, genau die, das gehört ja schon längst zu Spenge. Sind bestimmt zwei Kilometer und dann so nachts im Winterwind durchs offene Feld. Die hat sich noch nicht mal 'ne Blasenentzündung geholt, hat sogar am nächsten Tag noch 'ne halbe Stunde 'n Vortrag bei der Frauenhilfe gehalten über 'ne Gemeinde im Rheinland, wo sie öfter zu Besuch ist.“
„Dann war sie aber vor zwei-ein-halb Jahren doch schon ganz schön unvernünftig.“, gab Hans-Werner zu bedenken.
„Aber klar im Kopf und fit wie'n Turnschuh.“, hielt Volker dagegen.
„Oh je, da kommt Kundschaft.“, stöhnte Christiane.
„Wieso? Ist doch schön.“, wunderte Volker sich.
„Nee, ist nicht schön, ist Irmtraut.“
„Ungefähr so schön wie Sickendieks Martina.“, erklärte Hans-Werner.
„Also gar nicht schön.“, sagte Volker. „Aber Martina hat doch echt nicht alle Latten am Zaun. Wie kann man beim Einkaufen erzählen, dass man es gar nicht erwarten kann, dass die eigene Mutter endlich stirbt, damit man noch auf die Pauke hauen kann, bevor man selber kaputt ist?“
„Die ist doch schon kaputt.“, entgegnete Hans-Werner. „Nervt alle mit ihrem Rheuma, sitzt ständig beim Arzt und ganz richtig im Kopf ist sie auch nicht. Wenn einer bei Sickendieks im Haus dement ist, dann ist das Martina und natürlich ihr bekloppter Manni. Der redet auch nur Stuss, sagt immer, er sucht Investoren für sein Land, dabei hat er rein gar nix an den Hacken, das bisschen, was die haben, gehört Luise und die wird 'n Teufel tun und ohne Not Land verkaufen.“
Irmtraut Rösener-Klute betrat den Laden mit einem afrikanischen Korb, aber nicht so einem, wie es sie massenhaft für wenige Euros in manchen großen Supermärkten gab, die sich schon nach ein paar Monaten in ihre Bestandteile auflösten, sondern mit einem echten Weltladen-Produkt, bei dem der Hersteller einen fairen Preis erzielt hatte – und der Korb hielt jahrelang. Irmtraut war erst mit ihrem Mann nach Häger gezogen, nachdem ihre Kinder aus der riesigen Wohnung im Bielefelder Westen ausgezogen waren. Sie hatten schon immer vom Leben auf dem Land geträumt und sich im neuesten Teil des Dorfes eine Parterre-Wohnung mit Garten gemietet. Irmtraut war als examinierte Altenpflegerin vor einigen Jahren vom aktiven Pflegedienst zum Unterrichten von Pflegeschülern gewechselt und tat dies nun noch ein paar Jahre in Altersteilzeit. Ihr Mann – fünfzehn Jahre älter als sie – hatte schon vor dem Umzug aufgehört, als Allgemeinmediziner zu praktizieren, war aber für seine siebenundsiebzig Jahre noch äußerst rüstig. Beide mischten in vielen Vereinen mit, vor allem aber in der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“.
Irmtrauts Lächeln beim Betreten des Ladens war so angestrengt strahlend, dass Christiane vom bloßen Hinsehen Schmerzen bekam.
„Ach, Hallo, guten Morgen, ist vielleicht noch was von dem Dinkel-Chia-Brot da?“, fragte Irmtraut überakzentuiert.
„Nee, nur noch Tschi-a-batta!“, tönte es aus dem Hinterzimmer.
„Gar nicht hinhören.“, wiegelte Christiane ab. „Die essen seit Generationen Graubrot und das ändert sich auch nicht mehr. Von dem Dinkel-Chia ist noch genug da. Geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten. Eigentlich hält sich das am Stück ja länger frisch, aber ich habe gerade wieder so eine Sehnenreizung am Handgelenk und Martin hat ja schon seit Jahren so schwere Arthrose in den Händen, der kann kein Brot mehr schneiden.“
„Habt ihr keinen Allesschneider?“
„Nein, so eine Mini-Kreissäge kommt mir nicht in die Küche. Alles Krachmacher und Energiefresser. Und dann sind sie auch noch hässlich, nehmen Platz weg und müssen dauernd geputzt werden. Wenn meine Sehnen sich erholt haben, greife ich wieder selbst zum Brotmesser. - Aber sag mal, das Fest am Wochenende war doch richtig schön, oder?“
„Ja, war wieder mehr so wie früher.“
„Ja gut, mir hat auch ein bisschen was im Kulturteil gefehlt. Der Projektchor war zwar ganz ambitioniert, aber wir haben hier doch diese nette, kleine Künstlerkolonie, die müssten wir doch irgendwie einbinden können. Ich hätte es toll gefunden, wenn es irgendwo Raum zum kreativ Werden gegeben hätte.“
„Aber das wurde doch schon beim letzten Mal kaum angenommen.“, erinnerte Christiane an das Dorffest, das fast alle als kläglich gescheiterten Reformversuch verbucht hatten.
„Das kannst du aber so nicht sagen.“, widersprach Irmtraut. „Eine ganze Menge Leute hat Glasfensterchen bemalt, sogar mehr, als sich überhaupt im Bücherhaus einsetzen lassen.“
„Ja, nur wurden sie bis heute nicht eingesetzt, obwohl es doch schon drei Jahre her ist, und es wäre ja auch blanker Unsinn, das einzige Fenster im Bücherhaus mit Buntglas auszufüllen, dann fällt ja gar nicht mehr genug Licht zum Lesen rein.“
„Aber drinnen gibt es doch eine Lampe.“
„Aber ist das nicht Energieverschwendung?“
„Ach was. Da ist doch eine LED-Birne drin.“
„Na, wenn du es sagst. - Brauchst du noch etwas außer dem Brot?“
„Ach, ich überlege, ob ich noch ein paar von den Äpfeln mitnehme. Wir haben ja welche im Garten, aber die sind schon noch reichlich grün.“
Читать дальше