„Ich bezweifle, dass du überhaupt beurteilen kannst, wer oder was manisch-depressiv ist.“, schleuderte Christiane ihr entgegen. „So'n bisschen Küchenpsychologie aus der Tina reicht da wohl kaum aus. Komm, Sigrid, ich denke, unsere Hochleistungsmartina kann uns hinter der Theke würdig vertreten. Der schlimmste Ansturm ist ja jetzt vorbei, da können wir auch mal Kaffee trinken gehen.“
Sie fanden schließlich zwei freie Stühle mit ungehindertem Blick auf die Gruppe der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“, die sich zu Kaffee und Kuchen gemeinsam eingefunden hatte und gerade die Bürgermeisterin mit neuen, bahnbrechenden, innovativen Ideen bestürmten.
„Da ist Martina aber sicher traurig“, überlegte Sigrid, „dass sie bei diesem wichtigen Termin nicht dabei sein kann und stattdessen zum Kaffee- und Kuchenschubsen verdammt ist.“
„Gut für die Dorf-Ini.“, erwiderte Christiane. „Sie würde das Bildungsniveau direkt um 20 Prozent senken.“
„Ja, aber was nützt die beste Bildung, wenn Intelligenz und Charakter so hinterher hinken?“, entgegnete Sigrid. „Guck dir nur mal das Duckface von Irmtraut an. Eine Verzweifelte, die versucht mit Brachialgewalt im letzten Drittel alles aus ihrem Leben rauszuholen, was sie in den ersten beiden Dritteln verpasst hat. In zwanzig Jahren schiebt die auch um viertel nach zwei mit dem Rollator an die Kuchentheke und fordert vier Stückchen Sahnetorte, aber sofort.“
„Ja, genau.“, kicherte Christiane. „Himbeer-Papagallo-Massakerpone mit doppelt Käse.“
„Volker hat schon Recht.“, meinte Sigrid. „Nur Labertaschen, diese Initiative.“
„Ach komm, Grankemeiers machen doch auch mit und die sind jawohl das genaue Gegenteil von Labertaschen, die packen überall mit an.“, erklärte Christiane.
„Ja, Grankemeiers sind ja nun auch überall dabei.“
„Aber sie sind nicht in der Frauenhilfe. Außerdem kann ich es den beiden nicht verübeln. Die haben noch echt Pfeffer im Hintern und in Häger passiert ja nichts, da muss man sich eben beschäftigen.“
„Ja, das stimmt.“, gab Sigrid Christiane Recht. „Hier passiert nichts. Hoffen wir, dass es auch so bleibt.“
Schröttinghausener Straße – Sonntag, 11. September 2016
Luise Sickendiek stand am Schlafzimmerfenster und ließ den Blick durch die feinen Organza-Stores über die Pferdeweide gleiten. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Kindheit hatte sie um diese Jahreszeit meistens auf unendlich weite Stoppelfelder geblickt. Gab es heute kaum noch. Wurde ja alles gleich gegrubbert. Damals hatten im Frühherbst am Samstag Abend ihre Brüder am Küchentisch gesessen und Drachen gebaut aus kerzengeraden Haselnussgerten, Packpapier und selbst angerührtem Leim aus Mehl und Wasser. Mit pedantischer Akribie hatten sie den Schwerpunkt ausgelotet und das Papier millimetergenau zugeschnitten. Sie hatte sich immer darüber lustig gemacht, weil ihr selbst ebenso wie ihrer kleinen Schwester dieses Vergnügen nie vergönnt gewesen war – der Samstag Abend war die Zeit zum Stricken, Nähen oder Stopfen. Ihre Großmutter hatte sich noch aufs Spinnen verstanden, ihre Mutter hatte das zwar auch gelernt, aber überhaupt keine Lust dazu gehabt – nur am Webstuhl, der in einer eigenen Stube stand, war sie eine wahre Künstlerin gewesen. Doch ihre Töchter hatte sie nicht an das wertvolle und empfindliche Werkzeug heran gelassen, und so hatten sie das Weben nie gelernt, und der Webstuhl hatte jahrelang herumgestanden, bis er schließlich so wurmstichig gewesen war, dass der Bruder, der den Hof geerbt hatte, ihn aufs Feuer geworfen hatte. Wer hätte das damals gedacht, als sie an kühlen Samstag Abenden ihre Drachen bauten, die sie am Sonntag auf dem Stoppelfeld steigen ließen und oft auch in der Woche, am Nachmittag, während Luise ein Stück weiter die Gänse hüten musste.
Luise seufzte. Wie lange hatte es zu Weihnachten schon keinen Gänsebraten mehr gegeben. Sie liebte ihn besonders, wenn die Gans mit Äpfeln und Walnüssen gefüllt war, aber Martina, ihre Tochter, meinte, Gänsebraten sei viel zu fettig, verursache nur Magenbeschwerden und außerdem habe sie keine Lust, stundenlang in der Küche zu stehen, um das Vieh vorzubereiten und dann noch einmal stundenlang im Fünfzehn-Minuten-Takt den Braten aus der Röhre zu ziehen und mit Fett zu begießen. Ach ja, Luise seufzte erneut, Martina hatte schon als Kind zu nichts richtig Lust gehabt.
Ihre Beine begannen, leicht zu zittern, ein deutlicher Hinweis, dass sie sich bald setzen musste. Langsam und bedächtig tippelte sie über den Hausflur auf die gegenüber liegende Seite des Hauses, wo ihr Wohnzimmer lag. Hier hatte sie ein Fenster, das zur Straße hinaus ging und davor stand ein bequemer Ohrensessel. Sie hatte schon in jüngeren Jahren gern von diesem Fenster aus die Straße beobachtet, aber selten genug die Zeit dazu gefunden. Das war nun eines der wenigen Privilegien, die ihr das Alter zu bieten hatte, wenn ihr schon ein Großteil der kulinarischen Hochgenüsse versagt blieb, nicht etwa, weil der Zustand ihrer Organe dies nicht gestattete, sondern weil ihre Tochter sich standhaft weigerte, sich Mühe zu geben. Überhaupt hatte sie sie einfach nicht so hinbekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan, die es einmal besser haben sollte als sie selbst: Realschule und eine ordentliche Berufsausbildung, Klavierstunden, Tanzstunden und immerzu Kleidung in bester Qualität. Ein eigenes Zimmer, Bücher, einen Plattenspieler, Kindergeburtstage, Urlaubsreisen. Sie hatte die besten Voraussetzungen genossen, sich zu einem grazilen Schwan zu entwickeln und war nun doch eine tapsige, fette Ente geworden, dabei aber nicht so gutmütig, sondern zänkisch und bissig wie eine Gans. Am Vater konnte es nicht liegen, der war so schneidig gewesen, schlank, mit vollendeter Haltung und aparten, markanten Gesichtszügen. Wenn Martina keine Hausgeburt gewesen wäre, hätte sie sie für ein Wechselbalg gehalten.
Ach ja, ihr Ludwig, vielleicht hätte sie das Martyrium von Schwangerschaft und Geburt doch noch einmal auf sich nehmen sollen, dann wäre ihr mehr von ihm geblieben, als diese ewig übellaunige, unansehnliche Tochter. Aber das, was da zwischen den gestärkten Laken passieren musste, um guter Hoffnung zu werden, hatte sie unendlich abgestoßen. Warum nur alle so ein Gewese darum machten? Es war schmerzhaft und außerdem entwürdigend, wenn der sonst so elegante Mann schwitzend und keuchend auf ihr herumzappelte und dabei Grimassen zog, die sie an seinem Wohlbefinden zweifeln ließen. Es war ihm schwer gefallen, die meiste Zeit darauf zu verzichten, aber er hatte Rücksicht auf sie genommen und das hatte sie ihm hoch angerechnet. Doch dann war er viel zu früh gestorben, gerade mal siebzig war er gewesen. Jochen hatte länger durchgehalten, aber er war auch ein Hallodri gewesen, der seiner Frau viel Kummer bereitet hatte, wenn auch ein reizvoller, interessanter und unterhaltsamer Zeitgenosse.
Sie blickte rüber zur Tischlerei, hinter der sich die Spitze des bescheidenen, achtzehn Meter hohen Kirchturms befand. Ob sie wohl noch einmal zur Frauenhilfe käme? Vor fünf Tagen hatte sie die Zeit verschlafen, das hieß, Martina hatte sie in ihrer Boshaftigkeit einfach nicht geweckt und Luise fragte sich, ob sie ihr nicht etwas ins Essen gerührt hatte, damit sie fest und lange schlief. In der Woche davor wollte ihr Kreislauf nicht so recht, ihr war so schwindelig gewesen, dass sie sich immer wieder hinlegen musste. In den beiden Wochen davor hatte eine hartnäckige Sommergrippe sie außer Gefecht gesetzt und davor war eine lange Sommerpause gewesen, denn in den Schulferien blieb das Gemeindehaus geschlossen, damit die ehrenamtlichen Küsterdienste auch einmal verschnaufen konnten.
Singenstroths Lieselotte war nun zum zweiten Mal Uroma geworden. Warum schafften ihre Enkel das eigentlich nicht? Larissa war mit achtundzwanzig im besten Alter, André mit dreißig Jahren erst recht dran mit der Familiengründung. Ob sie das wohl noch erleben würde? Aber die zwei ließen sich ja auch gar nicht mehr blicken und würden einen eventuellen Familienzuwachs möglicherweise gar nicht bekannt geben.
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