ERSTER TEIL
Häger Zentrum – Sonntag, 11. September 2016
Pünktlich um 09.50 Uhr rief die Glocke zum Gebet, sehr zum Ärgernis der benachbarten Jugendlichen, sowie der Gruppe gereifter Mittelalter, die aber nach eigener Einschätzung noch voll im Saft standen. Sie hatten Freitag und Samstag im Festzelt die Nacht zum Tag gemacht; freitags mit hipper Bravo-Hits-Disco bei Bier, Cola und Alkopops, samstags mit dem Besten aus den sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahren und gelegentlichen Hits von heute. Das Alkoholsortiment war mit Cocktail- und Sektbar erheblich umfangreicher, die Anzahl der Schnapsleichen von vergleichbarer Anzahl. Wenigstens war ihnen ein nächtlicher Naziüberfall erspart geblieben; der letzte lag etwa zehn Jahre zurück, denn zum Glück war die Clique der Ewiggestrigen beziehungsweise frustriert Gewaltbereiten mit extrem begrenztem Horizont, die im Nachbardorf Schröttinghausen ihr Hauptquartier bezogen hatten, mittlerweile zu Verstand gekommen oder weggezogen oder eingeschüchtert oder hatten einfach die Lust an der Randale verloren, weil sie in die Jahre gekommen waren. Glücklicherweise hatten sie keinen Nachwuchs herangezogen.
Jetzt waren die Kirchenbänke locker gefüllt – Weihnachten war es dreimal so voll – um das traditionelle Dorfgemeinschaftsfest, das beim letzten Mal einem sichtlich gescheiterten Reformationsversuch zum Opfer gefallen war, mit einem Gottesdienst zu eröffnen. Anschließend boten Hühnersuppe und Grillwurst eine adäquate Grundlage für den Frühschoppen. Im Festzelt traten der Posaunenchor, die Feuerwehrkapelle sowie ein eigens für das Dorfgemeinschaftsfest und das in Kürze folgende Gemeindefest gegründeter Projektchor auf, um die Anwesenden mit einem abwechslungsreichen Bühnenprogramm bei Laune zu halten. Einige Bewohner des Übergangswohnheims für Geflüchtete, die man überredet hatte, den Festgottesdienst zu besuchen, saßen nun pflichtschuldig vor einem Teller Hühnersuppe und ertrugen höflich lächelnd die gut gemeinten musikalischen Darbietungen. Wenigstens die Kinder hatten Spaß daran, um das Zelt herum Verstecken zu spielen oder sich auf der bereit gestellten Hüpfburg zu vergnügen.
Um 14.00 Uhr lebte eine weitere lieb gewonnene Tradition wieder auf: Der Festumzug. Dort präsentierten sich Vereine und Initiativen mit phantasievoll dekorierten Wagen, die von Traktoren gezogen alle dicht besiedelten Straßen diesseits und jenseits der Landstraße entlang rollten und von deren Plattformen wie im Kölner Karneval Bonbons in die Menge geworfen und begeistert von den Kindern aufgesammelt wurden.
Da gab es zum Beispiel den Heimatverein mit einem Wagen, der geschmückt war wie eine von Landfrauen gefertigte Erntekrone: Bögen aus geflochtenem Stroh, mit Hasel- und Weidengerten verstärkt – und eingearbeitet in dieses Gesamtkunstwerk waren Sonnenblumen, Dahlien, Astern und Efeu. Führende Vereinsmitglieder nahmen huldvoll die Ehrbekundungen des Fußvolks entgegen wie Protokoll-geübte Angehörige des britischen Königshauses.
Die Landjugend hatte in der ihr eigenen, derb-humoristischen Kreativität Zweige wie sprießende Bäume an ihren Wagen gebunden, die sogar Früchte trugen, allerdings in Form winziger Schnapsfläschchen, deren beeindruckende Vielfalt ein schillernd buntes Bild abgab.
Die Feuerwehr hatte ihr Vehikel ganz in rotes Krepppapier eingekleidet, eine alte Holzleiter mit flatternden Bändern geschmückt und ein mobiles Blaulicht auf der Zugmaschine befestigt, einem winzigen, feuerroten Traktor aus den fünfziger Jahren. Den hatte der Trecker-Verein zur Verfügung gestellt und sich selbst mit einem noch älteren Modell in leuchtendem Blau, auf Hochglanz poliert eingereiht. Der Wagen selbst war mit einfachen Girlanden geschmückt, um der eigentlichen Attraktion nicht die Schau zu stehlen.
Sogar die örtliche Möbelmanufaktur war diesmal dabei und kutschierte eine gemütliche Sitzgruppe durchs Dorf wie ein Wohnzimmer auf Rädern. Sie warfen auch die edelste Bonbon-Mischung in die Menge, was die Kinder hingegen kaum zu würdigen wussten.
Die kleine, örtliche Künstlerkolonie hatte ein Maskottchen entwickelt, das sie in Übergröße und aus Pappmaschee durch den Ort zogen: Das Häger-Schweinchen. Dieses Schweinchen bezog sich auf den Slogan „Häger hat Schwein gehabt“, den sich die Dorfladen-Initiative auf die Fahne geschrieben hatte. Die engagierten Mitglieder des erst kürzlich gegründeten Vereins, der für eine fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeit mit angeschlossenem Café-Betrieb gesorgt hatte, war vom ehrenamtlich aktiven Grafiker mit einem tollen, großflächigen Plakat versorgt worden, das nun in einem stabilen Holzrahmen auf dem bunt geschmückten Hänger die Straßen entlang glitt wie ein Segel auf glitzerndem Gewässer.
Der örtliche Fußballverein hatte seinen Wagen mit ausrangiertem Kunstrasen eingekleidet und die Flüchtlingsinitiative zog einen Bollerwagen mit einer riesigen Traube bunter Ballons durchs Dorf. Den Vogel aber hatte die Initiative der Windkraftgegner abgeschossen: Ein etwa 1,50 Meter hohes, funktionstüchtiges Windrad wurde ebenfalls auf einem Bollerwagen durch den Ort gezogen und bewies sogleich sein zerstörerisches Potential: Husemanns Hecke erhielt einen außerplanmäßigen Formschnitt, der für den rasenkantenreinen Vorzeigegartenbesitzer schlimmer war als Gänseblümchen im Verbundpflaster, so dass er es nicht mit einem Achselzucken abtun oder gar mit einem Augenzwinkern als Extrabonbon der Gartenbau-Avantgarde verkaufen konnte.
Das Schlusslicht bildete die Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“ oder, wie sie sich selbst im Telegrammstil nannten die „Dorf-Ini“. Hier mischten all jene mit, die in den Vereinen mit ihren spezifischen Ausrichtungen nicht so recht Fuß fassen konnten, aber dennoch große Lust hatten, sich für ihr Dorf einzusetzen. Von den traditionellen, alteingesessenen Dorfbewohnern wurde die Gruppe allgemein belächelt, insbesondere ihr Wagen, der auf einen kleinen PKW-Anhänger montiert von einem Mittelklassewagen gezogen wurde. Ein Potpourri aus Blumenarrangements, selbst gemalten, abstrakten Bildern wie auf Leinwand gebannte Vollrausch-Visionen, Häkelblumen, einem bestrickten Wagenrad und einem bunten Vogelhäuschen, in dem einige Bücher steckten – eine Anspielung auf das Bücherhaus, in dem jeder unbürokratisch Bücher bringen oder mitnehmen durfte.
Es fehlte der CVJM, dessen Mitgliederzahl überschaubar war und dessen Ehrenamtliche lieber anderweitig beim Fest mitmischten, als den Verein zu repräsentieren, sowie die Landfrauen, die bereits hinter dem Kuchenbuffet schwitzten. Fabelhafte Meisterwerke ländlicher Konditorinnenkunst, unter denen sich die Bierzelt-Tischplatten bogen, warteten auf die gierigen Mäuler, die sie zu verschlingen gedachten. Der Umzug war noch nicht zu Ende, da standen bereits die ersten ungeduldigen Rentner mit gezückten Portemonnaies vor der Kuchenausgabe, wild entschlossen, sich nichts von den gelungensten Kreationen entgehen zu lassen: Friesentorte, Schwarzwälder Kirsch, Maracuja-Traum, Fanta-Torte, Kiwi-Banane, Frankfurter Kranz und so weiter und so fort.
„Oh, die Ruhe vor dem Sturm ist wohl vorbei.“, bemerkte Sigrid schmunzelnd.
„Das ist erst das Wetterleuchten.“, erwiderte Christiane. „In zehn Jahren steht Hildegard auch da, klappert mit dem Gebiss und rasselt mit dem Rollator. Eigentlich unfassbar, dass sie mit 86 immer noch auf dieser Seite der Theke steht.“
Hildegard war Sigrids Großmutter und setzte nun ihrerseits mit ihrer 68-jährigen Tochter Renate zur Nachlese des Gottesdienstes an.
„Was hat der Wellmann eigentlich heute Morgen auf der Kanzel für’n Tinnef erzählt? Dabei war das so ein schlichter Predigttext: Respekt vor dem Alter und sich gegenseitig mit Achtung begegnen und sich vor allem Gott unterordnen. Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“
Читать дальше