Ihr Begleiter winkte ihr zu, als er ausstieg. Das Mädchen schien zwar willens zu sein, sonst wäre es wohl nicht mitgefahren, nun, so dicht vor dem Ziel, aber doch zu zögern.
Wargas wusste aus den Nachrichtensendungen, dass es keine wirkliche Strafe für sogenannte Vergehen gab, mit einer, allerdings sehr seltenen Ausnahme. Man appellierte an Einsicht und Vernunft und setzte darauf, dass die Meinung der anderen einen schnell zur Räson bringen würde, weil sie, als nicht „abweichlerisch“ Empfindende, wegen ihrer Sensibilität und Feinfühligkeit (die manchmal, vor allem, was grundsätzlich moralische Fragen anbelangte, fast an Rührseligkeit grenzte), besonders empfindlich auf jeden Verstoß reagieren würden.
Es war jedenfalls das Bild, das sich der Doktor gegenwärtig von ihnen machte. Moralität nicht so sehr aus freiem Willen, der seine Trägheit und seine angeborenen oder erlernten Schwächen überwand, sondern weil man dazu eine Neigung verspürte.
Der Junge nahm die Stufen des Buchladens mit einem Sprung und war gleich darauf verschwunden. Das Mädchen folgte ihm langsamer – und sah zögernd in den dunklen Innenraum …
Er besaß keine Türen mehr, damit die Purificateurs ungehindert ein und aus gehen konnten.
An solchen Stellen vermuteten sie immer Flüchtlinge – als ziehe es die Alten unwiderstehlich zum Ort ihrer früheren Verbrechen zurück, dorthin, wo man ihre kulturellen Verranntheiten nachlesen konnte.
Dabei hatte sich schon in der Zeit vor der Jahrtausendwende außer Wissenschaftlern oder Studenten und den ewig unverbesserlichen Bücherwürmern kaum noch jemand für Literatur interessiert.
Ein Schritt, ein winziger Anstoß, der sie in den Zeitungen und Magazinsendungen als ein trockenes und viel anstrengenderes Vergnügen abwertete, verglichen mit den flimmernden bunten Bildern, und das Lesen wäre völlig aus der Mode gekommen, da es die meisten ohnehin so empfanden.
Seiner Überzeugung nach war es nur deshalb nicht ganz entbehrlich geworden, weil man sonst keine Straßenschilder, Digitaluhren, die Etiketten der Schnapsflaschen oder seine Gehaltsabrechnung hätte entziffern können. Das alles hatte sich erst in der Weda-Zeit gebessert, nachdem Lyons Eierköpfe dazu übergegangen waren, den Genen ihre eigenen literarischen und feingeistigen Vorlieben einzupflanzen.
Seit man mit Hilfe von elektronischen Schablonen und elektronenmikroskopischen Feinstlasern kleinste Einheiten aus dem genetischen Material herauslösen und durch das „Finder“-Verfahren beliebig wieder einsetzen konnte, hatte sich die Technik bis an die Grenze des überhaupt Denkbaren verfeinert, weit entfernt vom vorsintflutlichen Zellkernaustausch mit Mikropipette und Hohlnadel.
Es war möglich, Interessen, Vorlieben, Neigungen zu kombinieren, soweit sie überhaupt kombinierbar waren und solange sie nicht zu mit einander im Streit liegenden Interessen oder Gefühlsspannungen führten.
Im Grunde gab es nur eine einzige ernst zu nehmende Strafe für ein Vergehen wie das des jungen Pärchens, wenn sie auch äußerst selten angewandt wurde:
Unter WEDAs Seelenaustauschern zu enden, diesem Ding, das in Wirklichkeit, davon war er überzeugt, ein simpler Gehirnwellenblockierer war; nur etwas stärker als das Gerät, das er zur Unterdrückung von Theta-Wellen am Krankenhaus benutzt hatte. Bei schlechtgelaunten Erwachsenen, vor allem jenen mit einer starken Neigung zu zerstörerischem Verhalten, überwogen die Theta-Wellen und konnten sich über weite Hirnbezirke verbreiten.
D. Hill hatte schon vor langer Zeit, im Jahre 1950, als Wargas noch nicht einmal geboren war, entdeckt, dass es eine Gruppe von Psychopathen mit einer sehr speziellen, charakteristischen Theta-Entladung gab, die er „dysrhythmisches aggressives Verhalten“ nannte.
Indem sie mit den Geräten der neuen Generation an seinem Krankenhaus unterdrückt wurden, unterdrückte man auch ihr physisches und psychisches Korrelat: man unterdrückte die bösen oder verrückten Gedanken und beeinflusste das im Körper, was sie hervorbrachte, auf welche Weise auch immer.
WEDA schien sich dieses Effektes nun zu bedienen, um in einem technisch weiterentwickelten Verfahren die Aktivität des Gehirns auf schmerzlose Weise ganz einfach einzustellen – das Böse – oder was ihre alten Männer für das Böse hielten – abzuschalten.
Gewiss hatte er in seiner eigenen Arbeit, die auf etwas ganz Ähnliches abzielte, einige Erfolge aufzuweisen gehabt, auch in der Neurochirurgie. Seit ihre Methoden verfeinert waren, beschränkte sie sich nicht mehr auf steinzeitliche Schädelöffnungen, Operationen, wie man sie schon bei Ausgrabungen gefunden hatte. Viel Leid, zahllose spätere Fehlentwicklungen und persönliche Katastrophen ließen sich mit ein paar Schnitten vermeiden, wenn sie nur fachgerecht ausgeführt wurden.
Aber es blieb der verhängnisvolle Einfluss der Umwelt. Das tausendfache Beispiel von Gewalt, Mord und Korruption, von Eigensucht, Eskapismus und Unfrieden. Aus der persönlichen Katastrophe wurde leicht die gesellschaftliche. Während sein eigenes Bemühen in all den Jahren nicht viel mehr eingebracht hatte, als einige Symptome zu unterdrücken (Flickschusterei am Bewusstsein, das alles) und, im günstigsten Fall, eine Neuorientierung des Patienten einzuleiten, schaffte WEDA die Probleme durch eine Änderung der angeborenen Voraussetzungen aus der Welt …
Sie riskieren es, dachte er mit einer eigenartigen Mischung aus Erstaunen und Irritation und sah wieder auf die Straße und den parkenden Wagen hinaus.
Sie riskieren den Tod im Gehirnwellenblockierer. Das war noch nie vorgekommen.
Er hatte nicht ein einziges Mal beobachten können, dass außer den Säuberern jemand die alte Stadt betrat. Wenn er sie überhaupt zu Gesicht bekommen wollte, musste er sich mit einem guten Fernglas auf einen Hochhausturm der ehemaligen Universität legen (er befürchtete nur, das Blitzen der Gläser in der Sonne könnte ihn verraten); von dort aus, vom Stadtrand, sah man in die grünen Täler jenseits des Flusses, der eine inoffizielle Grenze darstellte.
Niemand verbot ihnen, das andere Ufer zu betreten, keine der drei Brücken war gesperrt.
Doch es brachte einen nur allzu leicht in den Verdacht, Interessen zu hegen, die jeder Einsichtige missbilligen musste. Man hätte beobachtet werden können.
Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zur Straße mit den ersten beiden Häuserzeilen, hinter denen, am gegenüberliegenden Hang jenseits des botanischen Gartens, die Gebäude des Observatoriums und die Kuppel des Auditorium maximum folgten.
Doktor Wargas konnte vom Dach der alten soziologischen Fakultät aus (er saß manchmal bei klarem Wetter dort) Teile ihrer neuen Wohnanlagen erkennen: terrassenförmig angeordnete acht- bis zwölfstöckige Gebäude, die sich in Farbe und Form der Landschaft einpassten, und weiter südlich, entlang des Rheins und nach Frankreich hinein, sah es nicht anders aus, wie er aus den allerdings zu seltenen Bildern im Fernsehen wusste. Der hervorstechende Eindruck dieser Orte war ein beinahe subtropisches Grün.
Da sich das Klima durch Umwelteinflüsse in den letzten fünfzig Jahren um einige Grad erhöht hatte, gediehen Pflanzen, die man früher vor allem in südlicheren Regionen angetroffen hatte, im Mittelmeerraum und in Südamerika: der Flamboynat mit seinen scharlachroten, gelbgestreiften Blüten oder der Drachenbaum; Tajenastren, meterhohe, dickfleischige Agaven und kaktusähnliche Euphorbien vermischten sich mit alteingesessenen Eichen und Ulmen.
WEDA in Lyon förderte diesen Vegetationsreichtum, man war bestrebt, aus allen Weltregionen, soweit sie die atomare Katastrophe und den Fallout überstanden hatten, Pflanzen anzusiedeln.
Bei guter Sicht erkannte er, dass fast sämtliche Steinwände von Ranken überwuchert waren – ein idealer Schmuck, und zugleich Kälte- und Wärmeschutz.
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