Er war etwa vierzig Jahre alt, besaß ein hageres Kinn und hatte stark gerötete Augen, die vermutlich von der grellen Sonne entzündet waren.
„Sie haben die Katastrophe überlebt?“, fragte er. Als sei das eine Frage! Wargas nickte nur.
Obwohl sie keinen Grund hatten, sich gegenseitig umzubringen oder einander zu misstrauen, schielte Wargas abwechselnd zur Hand des anderen in der Jackentasche und nach der umgehängten Leinentasche, ob sich darin vielleicht eine Waffe befände.
„Ich war hier auf Besuch bei deutschen Verwandten, als es passierte
Wargas nickte ein weiteres Mal.
„Drüben in den Staaten wäre ich jetzt zu atomarem Staub zerfallen.“ Er zeigte unbestimmt auf die andere Rheinseite und lächelte schwach. „Oder ein radioaktiv verseuchtes Monster. Hier habe ich das Virus überlebt.“
„Es waren Bakterien“, berichtigte Wargas.
„Diese Reise war meine Rettung.“ Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Sie leben nicht in der Rheingegend, oder? Wir wären uns schon irgendwann über den Weg gelaufen.“
„Bin hier nur auf Kleidersuche“, bestätigte der Doktor. „Weiter im Zentrum ist alles ausgeplündert.“
Der Amerikaner zeigte durch die Scheiben auf ein braunes Backsteingebäude mit außen umlaufenden Etagengängen und vollständig erhaltenen Geländern. „Die Säuberer kommen selten hierher. Ich wohne in der Fabrik drüben, unter dem Dach. Es ist ziemlich sicher. Das Gebäude ist ein – wie sagt man in Ihrer Sprache – Schweizer Käse ? Durchlöchert, meine ich. Es gibt genügend Schlupflöcher, durch die man fliehen kann, wenn sie kommen. Vielleicht sollten Sie mich einmal besuchen?“
Er schwieg und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Schon möglich“, nickte Wargas. „Falls ich wieder in diese Gegend komme.“
Zu zweit war es gefährlicher als allein. Zwei Personen machten einfach mehr Lärm als eine, bewegten sich in entgegengesetzten Richtungen, hinterließen mehr Spuren. Vor allen Dingen aber sprachen sie miteinander, und ihre Stimmen hallten aus den Fenstern und durch die leeren Straßenschluchten.
„Die Winterabende sind jetzt sehr lang. Wir könnten eine Partie Schach spielen.“
„Ich werde kommen.“ Wargas nickte. „Irgendwann im Dezember.“
Der andere nickte ebenfalls, nahm die Kleiderstapel, die er auf der Theke säuberlich gefaltet zurechtgelegt hatte, schob sie in einen danebenliegenden Kleiderbeutel und hängte sich das Ganze samt seiner Leinentasche über die Schulter. „Bis dann“, sagte er und verschwand durch die Hintertür.
Wargas beobachtete, wie er vorsichtig nach rechts und links die Straße hinunterstarrte, den Kopf vorgeschoben wie ein witterndes Tier, und dann das Pflaster überquerte – noch einmal aus alter Gewohnheit nach links und rechts blickend, als könnte irgendein Fahrzeug kommen …
Immerhin zeigte der Tod der Frau, wie vorsichtig er sein musste. Man hatte das ganze Stadtgebiet zur verbotenen Zone erklärt. Wegen „Seuchengefahr“.
Aber der wirkliche Grund war ein anderer. Sie fürchteten sich vor der Vergangenheit! Sie wollten verhindern, dass die Neuen aus Zeitungen, Büchern oder Filmen erfuhren, was in der alten Zeit wirklich getrieben worden war.
Sie glaubten zwar an die Macht der Gene, aber sie trauten der Verführungskraft der Worte alles mögliche zu.
Es war ja vorstellbar, dass eines ihrer Blumenkinder auf andere Gedanken kam, von den Freuden der Geschlechtlichkeit erfuhr, die ihnen für immer verschlossen bleiben sollten, oder von der Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit und Genusssucht der alten Generation. Ihrem Zynismus, ihren Lügen und Selbsttäuschungen, ihren uneinholbaren Idealen, ihrer Bequemlichkeit und Raffsucht, ihrem Misstrauen – ihren Verrücktheiten , die so verbreitet gewesen waren, dass man sie für normal gehalten hatte.
Der Doktor blickte zum Himmel. Es würde bald dunkel sein. Er brauchte noch Plastikblumen.
Nachts durch die Treppenhäuser einer leeren Stadt zu steigen, eine Taschenlampe in der Hand, Korridore voller offener Türen entlang, hinter denen sich diese Kerle mit ihren altmodischen Hüten und Schirmmützen verbargen, zerrte zwar nur an seinen Nerven, wenn er den Gefühlsabschalter zurückdrehte oder auf Null stellte, aber es machte auch blind für alles Schöne auf dem Weg.
So weit war die Technik dieser Dinger nie fortgeschritten, dass sie negative Gefühle, Stimmungen oder Emotionen ausfilterten, die positiven aber zuließen.
Es gab nur ein Entweder-Oder. Man beraubte sich aller Gefühle oder schaltete ihre Intensität herunter.
Doch die Welt, sowohl jene der Sinneswahrnehmungen wie auch die der Gedanken und Erinnerungen, verlor dann jeden Reiz. Man war noch in der Lage, die Zweckmäßigkeit oder den Sinn seines Handelns abzuschätzen; doch es blieb eine bloß intellektuelle Einsicht. Ein kalter Gedanke.
Wahrnehmung, als fotografiere man die Dinge ab; Gerüche ohne Reiz oder Abstoßung; Laute nicht mehr als geordnete Folgen von Tönen; selbst Schmerzempfindungen verloren ihre negative Gefühlstönung und wurden zu bloßen Empfindungen dieser oder jener Art: Von Druck, Spitzigkeit, Kontakt. Kälte zum Beispiel blieb eine „kalte“ Empfindung, aber man fror nicht, litt nicht darunter.
Ein Zustand, der leichtsinnig machte. Man riskierte mehr.
Das Bewusstsein war nicht getrübt, ganz im Gegenteil: weil die Emotionen fehlten – Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Trauer oder Eifersucht, befand man sich in jenem Zustand klarer, reiner Bewusstheit, der das Ziel vieler Religionen gewesen war.
Doktor Wargas dachte voller Resignation daran, dass Vera Melanchton von alledem eine überreichliche Portion besessen hatte. Bei aller Verliebtheit, die ihn jetzt noch manchmal plagte: es war realistischer, sich das einzugestehen.
Daran änderte auch der Umstand nichts, dass ihr Tod ihn tief getroffen hatte. Sicher bedauerte er wie niemand sonst auf der Welt, dass sie auf diese makabere Weise getrennt worden waren – durch einen winzigen Unterschied in der Abwehrkraft, eine simple Verschiedenheit in der Basenfolge der DNS, die nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gewesen wäre.
Vielleicht waren ihre offenkundigen Schwächen der Grund dafür, dass sie sich wie er als Ärztin am Krankenhaus für Zellbiologie interessiert hatte und nach Lyon gefahren war, um sich über WEDAs Zukunftsprognosen zu informieren und als eine der ersten für eine Genuntersuchung zur Verfügung zu stellen.
Nicht, weil sie die Absicht gehabt hätte, sich zu verändern, was nicht möglich war, sondern um dem Geheimnis ihrer „bösen“ Neigungen auf die Spur zu kommen, ihren Launen, Sprunghaftigkeiten, ihrem Hang zur Eifersucht und Kleinlichkeit.
Doktor Melanchton, ihr Vater, hatte diese Besessenheit, die er einen „pseudowissenschaftlichen Spleen“ nannte, im Debattierklub des Krankenhauses gründlich kritisiert; er pflegte kein gutes Haar daran zu lassen.
Wie er denn auch in seiner Tochter nie viel mehr als eine etwas bessere Operationsschwester gesehen hatte, die ihm mit den Instrumenten nur deshalb so geschickt zur Hand ging, weil sie seine Arbeitsweise und seine Gewohnheiten von Jugend auf kannte.
Melanchton, ein heller, blässlicher Typ, dünn und hoch wie eine Bohnenstange, war schon in jungen Jahren faltig wie ein Sechzigjähriger gewesen. Eher das Äußere eines leptosomen Mathematikers als eines Arztes.
Sein schmales Gesicht sah wenig vertrauenerweckend aus, es strahlte mit seinem verbissenen Zug um den Mund nicht gerade jene Zuversicht aus, die Patienten in eine der Heilung förderliche Stimmung versetzte. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass er und seine ebenso blässliche Frau eine so dunkelhäutige sinnliche, kleine Person hätten zeugen können. Spiel der Gene, dachte Wargas seufzend.
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