Er beteuerte mit wissendem Lächeln (in dem schon der Argwohn lag, man könnte ihm nicht glauben), dass er, obwohl der alten „fehlerhaften Generation“ angehörend, ganz seinen Ideen lebe. Das sei Erfüllung genug.
Danach wurde das Bild WEDAs eingeblendet. Ein vierzig Stockwerke hohes, dunkles Backsteingebäude. Endlose Reihen kleiner Fenster, hinter denen ihre Denkerzellen lagen, nur unterbrochen von den größeren Fenstern der Zentrallabors; und über und unter ihnen in der ganzen Breite verlaufende Simse, ebenfalls aus dunkel patiniertem Backstein, die ihm von weitem den Eindruck eines gigantischen geriffelten Blocks verliehen.
In seiner Düsternis besaß es tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Klosterburg früherer Zeit, und man malte sich leicht aus, obwohl das Innere nie gezeigt wurde, wie ihre Geistesarbeiter sich in den Wandelgängen bewegten, die Arme auf dem Rücken verschränkt, tief in Gedanken versunken, ihre Köpfe grüblerisch vorgebeugt, wissenschaftliche Formeln wie lateinische Litaneien murmelnd ...
Und über alledem, über der dunklen Steinburg und ihren wandelnden Bewohnern, wie ein Regenbogen der erlauchte Glanz des Nobelpreises.
Es gab keine Ermahnungen oder Ratschläge in den Sendungen. Lediglich Richtlinien, deren Nutzen jedermann einsah, und an die man sich hielt, weil man sie einsah. Ein Umstand, der den Doktor immer wieder verblüffte. Es waren eher Informationen als Appelle.
Ein Teil der Nachrichten betraf Erkundungsreisen nach Australien, Afrika und Asien. Aber sie ergaben selten Neues. Das Ergebnis war immer das gleiche: die Radioaktivität verminderte sich nur geringfügig, sie lag ähnlich hoch wie in den Staaten. Der günstigste Platz für eine Neubesiedlung war Neuseeland.
Wäre Europa nicht von den Raketen verschont geblieben, weil einige Militärstrategen – man wusste bis heute nicht, von wem, jede Seite beschuldigte die andere – es angesichts der Weltkrise für wünschenswert gehalten hatten, einen sogenannten „bakteriologischen Zwischenfall“ zu provozieren, der es ihnen erlaubte, sich hinter der Version vom „Angriff der Gegenseite“ zu verschanzen und „zurückzuschlagen“ (ein Minutenspiel der Raketen, es würde auf immer das Geheimnis jener Leute an den Frühwarnschirmen bleiben, wo die ersten Startsignale aufgeblitzt waren), dann gäbe es heute nicht einmal mehr dieses armselige Völkchen von vier Millionen zwischen Bremen und Marseille, zwölf über das Land zwischen der Nordseeküste und dem Mittelmeer verstreuten Zentren von etwas mehr als dreihunderttausend Einwohnern, dachte er.
Nichts weiter als ein besiedelter Streifen, vierzig Kilometer breit, wie ein über den Atlas gelegtes Lineal schräg durch Mitteleuropa, der sich die großen Flussläufe zunutze machte: Teile des unteren Rheins, der Mosel, Saone und Rhone und die Einzugsgebiete ihrer Nebenflüsse, weil ihr Wasser jetzt rein von jeder Nutzung durch Fabriken war.
Allerdings ließ es sich auch bei ausgeklügelter Filtertechnik in den Industriezonen nicht vermeiden, Flüsse und Seen wie bisher in Kloaken zu verwandeln.
Das alte Problem. Tribut an den Fortschritt. Aber es schadete niemandem, nicht einmal der Fauna: man begann jetzt sogar, Kaninchen und andere Kleinsäuger in den Genen anzupassen, um ihre Widerstandskraft gegen chemische Belastungen zu erhöhen.
Er hielt sich die Nase wegen des penetranten Kadavergestanks zu und drückte die Klinke des Lagerraums.
Als Wargas gefunden hatte, was er suchte, drei bauschige Seidenblumen, rot und blau schillernd, je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtete (so schillernd wie Veras Charakter) – er glättete sie sorgfältig und rollte sie in Seidenpapier ein, das er aus einem der Kartons zog, dann steckte er sie in die Innentasche seiner Jacke –‚ hörte er plötzlich Motorgeräusch von der Straße.
Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen! Es war das vertraute Geräusch, das ihn an eine ferne Zeit voller straßenverstopfender Blechlawinen erinnerte, die sich im Schneckentempo vorwärts bewegten. Ein Gedanke, der ihn elektrisierte …
Das Geräusch kam näher. Dem Klang nach offenkundig ein Personenkraftwagen.
Wie ist das möglich?, dachte er. Es gab keinen Tropfen Sprit mehr in der Stadt. In den ersten Monaten, als alles umgestellt wurde, hatte man jede Energiequelle ausnutzen müssen, und selbst die großen Raffinerielager in der ehemaligen nördlichen Industriezone waren ein Opfer der Aufbauphase geworden.
Wargas näherte sich dem Fenster; er sah auf die Straße. Voller Unbehagen stellte er sich vor, dass die Purificateurs jetzt auch schon Fahrzeuge benutzen könnten, um ihn zu jagen. Ihre kleinen Elektromobile zum Beispiel.
Aber nein, es war ausgeschlossen. Das Geräusch stammte von einem Benzinmotor. Außerdem wäre es unpraktisch gewesen, sie benutzten eine der Magnetbahnen bis zum Stadtrand und nahmen sich ihre Bezirke zu Fuß vor, weil sie ohnehin zahllose Treppen steigen und Gänge und Zimmer durchsuchen mussten. Während er noch darüber nachdachte, argwöhnisch und auf der Hut wie immer, sah er den Wagen auch schon um die Verkehrsinsel biegen.
Es war eine offene, viersitzige Limousine, silbergrau und verbeult, voller Rostflecken an den Kotflügeln, und sie sah aus, als habe ihr früherer Besitzer das Verdeck mit dem Schneidbrenner abgetrennt, um sie als Kabriolett benutzen zu können.
Der junge Mann am Steuer war hellblond, von nordfriesischem Typ und mager, sein Hemd flatterte im Fahrtwind. Das Mädchen daneben trug ein glänzendes Stirnband über dem brünetten, glatt zurückgekämmten Haar, und der Junge legte lachend den freien Arm um ihre Schultern, während sie mit quietschenden Reifen am Metropol-Kaufhaus vorüber nach rechts einbogen und verkehrt herum in eine schmale Einbahnstraße rollten.
Ihr Wagen schaukelte stark, die Stoßdämpfer schienen beschädigt zu sein; seine Vorderräder hüpften an der Bordsteinkante hoch und kamen mitten auf dem Bürgersteig vor einem Schaufenster zum Stehen.
Wargas kannte das Geschäft, eine verwinkelte kleine Buchhandlung, in der er sich früher mit wissenschaftlicher Literatur versorgt hatte. Seine Scheibe war zwar heil geblieben, die Auslage aber schon lange ausgeräumt.
Der Inhaber, ein jüdischer Emigrant, hatte Wert auf individuelle Bedienung gelegt. Aber das war lange her.
Er nahm an, dass seine Leiche längst irgendwo mit Kalk bestreut unter der Tonerde ruhte – oder als Staubwolke über die Stadt wehte.
Die Purificateurs hatten sich um alles Lesbare besonders gründlich gekümmert. Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen waren angezündet worden, ihre Magnetbandarchive und Textspeicher gelöscht. Die Lager der Buchhandlungen hatte man geräumt und an für die Öffentlichkeit unzugänglichen Stellen deponiert, vermutlich hinter dicken Mauern.
Doch es gab immer noch Bücher, die übersehen worden waren. Ein ungewöhnlicher Glücksfall hatte ihn den Schlüssel zur Universitätsbibliothek finden lassen.
Wargas war eingefallen, dass sich in der ehemaligen Wohnung des Hausmeisters wahrscheinlich ein Notschlüssel befand, in einem roten Kästchen mit Glasscheibe, wie vorgeschrieben. Tatsächlich hatte damals bei der allgemeinen „Bestandsaufnahme“ niemand daran gedacht, und es war ihm gelungen, drei Tage lang in der Bibliothek unbemerkt ein und aus zu gehen, ehe sie ihn schließlich doch entdeckten.
Sicher keine Purificateurs , überlegte er. Dazu waren sie zu jung. Und zu unbekümmert. Auch keine aus der alten Generation. Von ihnen sah man gewöhnlich nur die Schatten. Er schätzte das Mädchen auf höchstens fünfundzwanzig Jahre (allerdings konnte er sich auf diese Distanz und vom Fenster aus nur schwer ein Bild machen). Der Junge mochte erst um die Zwanzig sein.
„Halbsynthetische“ also, dachte er (obwohl sie so wenig synthetisch waren wie er). Geschöpfe WEDAs. Aber was hatten sie hier zu suchen? Im allgemeinen hielten sie sich streng an die Anweisung, der verbotenen Zone nicht einmal bis auf Sichtweite nahe zu kommen.
Читать дальше