Da Waren und Lebensmittel über unterirdische Transportbänder und Magnetbahnen angeliefert wurden, trübte nichts den Eindruck einer Gartenstadt, und Doktor Wargas konnte halbe Tage damit zubringen, auf den Dächern der Randzone liegend das Leben und Treiben zwischen Bänken und Brunnen zu beobachten, den öffentlichen „Malwänden, an denen man seine bildnerische Gestaltungskraft erprobte, den literarischen Lesungen, den Musik- und Pantomimegruppen.
Ein beliebter Zeitvertreib war das „Gen-Spiel“, bei dem man anhand farbiger Tafeln, auf denen die DNS mit ihren charakteristischen Ketten von spiralig angeordneten Nukleotiden und verbundenen Basen, deren Folge den genetischen Code bestimmte, ähnlich einem Schachspiel neue Kombinationen erfand und sie mit den der geltenden Lehre entsprechenden physiologischen und charakterlichen Anlagen verglich.
Sieger war, wer die meisten Treffer zu einer Neuschöpfung erzielte; solche Kombinationen hatten Aussicht, von WEDA in Lyon als Modelle verwendet zu werden – und eines Tages würde man ihnen vielleicht als leibhaftige Menschen begegnen.
Er fand das alles höchst interessant und überzeugend. Doktor Wargas erinnerte sich dann der alten Zeiten, als der Gestank der Schlote über das Land wehte und sich nach Norden, zum Rhein hin, Hochöfen und Fördertürme aus dem ewigen Dunst von Schwefeldioxid und anderen Abgasen erhoben, für den diese Gegend berüchtigt gewesen war; der Baumbestand war dezimiert, die Durchschnittstemperatur erhöht, die oberen Schichten der Atmosphäre waren verseucht und die Ozeane um einen knappen halben Meter angestiegen; seit der Abholzung der Amazonas-Urwälder hatte die Verkarstung, Versteppung und Verwüstung zugenommen, die Sauerstoffdichte sich vermindert; der Dünnsäurepegel der Weltmeere hatte küstennahe Fische ungenießbar gemacht; Knochenleiden und Hauterkrankungen nahmen zu; Nierenschäden waren an der Tagesordnung; Missbildungen bei Neugeborenen die Regel, soweit WEDA (er fasste instinktiv nach der silbernen Kappe über seinem Ohr, wenn ihn die Erinnerung überkam) sich nicht bereits ihrer Erbanlagen angenommen hatte
Falls die beiden es darauf anlegten, den Purificateurs in die Arme zu laufen, hatten sie alles Erforderliche dazu getan: sie waren lärmend die Straße mit einem altmodischen Benzinmotor entlanggefahren, parkten auffällig auf dem Bordstein, und jetzt schepperte im Inneren des Ladens sogar ein Fenster, oder eine Glastür schien in tausend Splitter zu zerfallen, weil der Junge sie einschlug.
Er hatte keine Ahnung, wie weit die Befugnisse der Säuberer in einem solchen Fall gingen, ob es ein Verfahren gab oder Aburteilung auf der Stelle.
Dass sie die Seele des Schuldigen ihrer Seelenbank zuleiteten, erschien ihm eher wie die Mär vom Geist jenes Ahnen, der in den Bäumen lebte. Immerhin verfehlte die Drohung ihre Wirkung diesmal, denn das Mädchen folgte dem Jungen trotz des Lärms hinein, und Wargas beeilte sich, durch das stockfinstere Treppenhaus ohne sich den Hals zu brechen auf die Straße zu gelangen, weil er neugierig war, was sie wohl dort trieben.
Er erinnerte sich, dass der Laden in der Mitte des Verkaufsraums eine Wendeltreppe besaß, die zur ersten Etage führte – und dass man von dem Vorbau eines höher liegenden Parkhauses gut durch seine Fenster sehen konnte
Es wird doch kein Schäferstündchen sein?, überlegt er. Dazu brach man keine Scheiben entzwei. Nach allem, was er wusste, paarten sie sich nicht mehr. Die Sexualität, Quelle der Lust und des Leidens zugleich, war ihnen auf immer genommen worden.
Eine Erleichterung, wie er vermutete, wenn er an seine eigenen, nicht selten unerfreulichen Erfahrungen mit Vera dachte. Sie gebaren zwar noch, aber die Einpflanzung der Erbanlagen erfolgte mit Hilfe elektronischer Schablonen; nur eine winzige Operation, ein Eingriff wie das Plombieren von Zähnen. Auf die Verschmelzung des männlichen und des weiblichen Kerns nach gewöhnlicher Manier konnte man inzwischen verzichten.
Doktor Wargas hatte erfahren, dass eine außerordentliche Verfeinerung der platonischen Liebe die Folge war (was niemanden daran hinderte, zärtlich zu sein; es war weniger die Austreibung der Sinnlichkeit als das Ende der exzessiven Fleischeslust, die nur in die Versklavung heftiger Gefühle führte). Wenn man bedachte, dass einige Perversionen wie Nekrophilie, Sodomie, Sadomasochismus damit auf der Strecke blieben, stimmte das nicht gerade unversöhnlich.
Lust und Hebung des Selbstwertgefühls, wie sie die Sexualität vermittelte, schienen von WEDA auf überzeugende Weise durch andere, letztlich bekömmlichere Freuden ersetzt worden zu sein: Ausgeglichenheit, Harmonie, Toleranz, Wohlwollen, Freundlichkeit, Erfüllung.
Da Sexualität in fast allen Religionen als notwendiges Übel, eigentlich aber als Selbstbefleckung angesehen worden war (von der Manie zur Katastrophe nur ein kleiner Schritt, wenn man an das Elend dachte, das sie, ebenso wie Religion und Politik, verursacht hatte), war es nicht schwer gewesen, diese Abneigung und Enthaltsamkeit, die sonst vor allem alte Leute und Priester heimsuchte, für den neuen Zweck zu verstärken und sie zu einem standardisierten Wesenszug werden zu lassen.
Im Grunde war, seit man das „Finder“-Verfahren beherrschte und die neue Laser- und Schablonentechnik besaß, nicht viel mehr dazu notwendig gewesen, als den genetischen Code noch weiter zu entschlüsseln und sie in der Erbmasse als diese bestimmte Kombination von Basenfolgen zu identifizieren. Jedenfalls sah es nach den Diagrammen und Schaubildern, die man gelegentlich im Fernsehen zeigte, ganz einfach aus. Jeder aufgeweckte Schuljunge hätte ihre Technik beherrschen können.
Er überzeugte sich mit einem schnellem Blick, dass die Straße sicher war und lief geduckt zur anderen Seite. Ganz sicher konnte man allerdings nie sein, weil die Purificateurs manchmal irgendwo hinter den offenen Fenstern auf dem Fußboden zu sitzen pflegten, um abzuwarten und bei dem geringsten Geräusch ihren Kopf über die Fensterbank zu schieben.
Sie waren einen Großteil ihrer Zeit zur Untätigkeit verdammt: das frustrierte, machte zornig und schärfte ihr Gehör wie bei einer Fledermaus (der Doktor war ohnehin überzeugt, dass sie die Flöhe husten hörten, weil man ihre Hörfähigkeit genetisch der Empfindlichkeit von Hunden angeglichen hatte; auch ihre übergroßen, beweglichen Ohren sprachen dafür).
Wie schon so oft, erschrak er deshalb vom Geräusch seiner eigenen Schritte, als er, am Geländer einer Kellerbar entlang, deren Reklameschild „Intime Massagen“ versprach, über ein leeres Tankstellengelände hastete und dann, nach etwa dreißig Metern, die schützende Auffahrt der Großgarage erreichte.
Er nahm mit einem Anlauf die Schräge. In den Einstellplätzen standen noch Fahrzeuge, als seien sie von ihren Besitzern zum Einkauf zurückgelassen worden: chromglänzend und nur mäßig verschmutzt.
Die Betongewölbe hatten sie vor Staub und Witterungseinflüssen bewahrt. Ein Palmzweig aus Kunststoff lag auf dem Fußboden. Der Doktor stolperte darüber hinweg.
Wo kommt das Zeug her?, dachte er, sich ungläubig umblickend. Wahrscheinlich auch noch geweiht!
Früher hatten solche Zweige, über dem Stubenkreuz oder der Türschwelle, als Schutzmittel gedient. Seit die Kirchen vernagelt waren, gab es das Anbeten eines höheren Wesens nicht mehr, dieses demütigende Herr-Knecht-Verhältnis. Es hätte ein Gefühl der Unterlegenheit erzeugt. Aber der neue Mensch hatte nach WEDAs Überzeugung keinen Anlass dazu.
Einmal hatte er sogar ein Kamilavkion gefunden, jene schwarze, zylinderförmige Kopfbedeckung mit einem Schleier hinten, wie sie Geistliche orthodoxer Kirchen trugen.
Er blickte vorgebeugt über die Plattform in das gegenüberliegende Fenster. Es war kaum mehr als drei, vier Meter entfernt. Nahe genug, um durch seine zerschlagenen Scheiben ihre Stimmen zu hören.
Читать дальше