Die hohe Seitenwand des Parkhauses nahm dem Raum zwar einiges Licht; doch soviel konnte er noch erkennen: das Mädchen saß am Tisch, nur wenige Schritte vom Fenster entfernt, und las in zwei Folianten, dunkelbraunen ledergebundenen Bänden mit Goldprägung. Ihre Pappschuber lagen daneben.
Die Beine des Jungen waren kurz zu sehen, als sie im hinteren Teil das Zimmer durchquerten, anscheinend kannte er sich aus und suchte in den Regalen nach weiterem Lesestoff.
Wargas versuchte, den Titel auf dem einen, liegenden Band zu entziffern – er lag verkehrt herum –‚ doch in diesem Augenblick hob das Mädchen langsam das Gesicht, blickte nachdenklich von den offenen Buchseiten auf – und der Doktor erstarrte.
Es war ein klares Gesicht, mit dunklem Teint, dunklen braunen Augen und ungeschminkt, ein wenig zu vollkommen, um sinnlich zu sein, trotz der aufgeworfenen Lippen; zu vergeistigt, um im Bett ganz Körper sein zu können.
Schön aber kalt, hätte er in früheren Zeiten geurteilt, denn er war empfänglich für schöne Gesichter; aber dazu kam er nicht, das Bild hielt ihn gefangen, und er starrte mit halbgeöffnetem Mund auf die Gestalt am Tisch, auf ihre vorgebeugten fraulichen Linien, ihre Hüften, die ein wenig zu breit waren, aber nur ein wenig (ganz wie er es kannte), ihre wohlgeformten Beine, ihre kleinen Füße, die unter dem Tisch nervös mit einem ausgezogenen Schuh spielten, als spiegelten sie die Erregung ihrer Gedanken über das Gelesene wieder – bis dem Doktor durch einen schmerzhaften Druck auf der Brust bewusst wurde, dass er vor Sprachlosigkeit den Atmen angehalten hatte.
Er atmete schnaufend durch – zwei tiefe Züge –‚ dann wich er instinktiv in den Schatten des Mauerdurchbruchs zurück. Eine Bewegung, die er sogleich als lächerliche Narrheit eines alten Mannes empfand. Unsinn, sie war tot. Und wenn er sich verbarg, dann nur, weil er erschrocken war. Er hatte sie selbst beerdigt. Sie lag nahe im Depot in einem der Höfe am Bahnhof, und er würde ihr gleich Blumen auf das Grab stellen.
Sie ist wie ihr Spiegelbild ... dachte er. Nur viel jünger – über zwanzig Jahre jünger.
Ihre erste Begegnung, als sie ihm, eine hübsche und schon ganz erwachsen wirkende Medizinstudentin, im Haus ihres Vaters begegnet war, kam Wargas in den Sinn – nach einer Nacht, die sie, er wusste nicht mit wem, irgendwo zwischen altem Gerümpel, vielleicht in der schummrigen Stuhlkammer hinter dem Tanzsaal, verbracht hatte, und er verglich diese Erinnerung wieder und wieder mit dem Mädchen am Tisch.
Damals war ihr Kleid staubig und zerknautscht gewesen, obwohl sie (was sonst konnte man bei einem Puritaner wie Melanchton erwarten?) hartnäckig beteuerte, mit ihren Studenten nur getanzt zu haben.
Es hatte ihn ziemlich amüsiert, da er sehr frei darüber dachte (bis er selbst davon betroffen war). Melanchthons kleinliche Predigt – als sei seine Tochter eben erst flügge geworden – ließ ihn spekulieren, wie viel anders er sich selbst verhalten hätte, obwohl er kinderlos war und es sein Leben lang aus Überzeugung bleiben würde; nun sogar gezwungenermaßen.
Auch wenn er die sexuelle Freiheit, die sich damals in zahllosen einschlägigen Etablissements der Städte niedergeschlagen hatte, insgeheim als eine Verirrung verachtete. Diese Neuauflage des alten Sodom und Gomorrha. Obwohl er selbst kein Kostverächter war, glaubte er auch in seiner Art bestätigt gefunden zu haben, dass die alten Religionen ganz recht daran taten, unmäßiger Lust und Begierde einen Riegel vorzuschieben: der Charakter war wie ein nicht für Erdbeben erprobtes Gebäude, das bei starken Gefühlserregungen leicht einstürzte.
Während er noch seinen Erinnerungen nachhing, stellte der Junge einen weiteren Packen Bücher vor sie hin. Sie blickte dankbar auf.
Er schlug mit der flachen Hand leicht auf einen der ledernen Buchrücken – und eine dicke Staubwolke breitete sich vor ihnen aus. Beide lachten in heimlichem Einverständnis. Wargas sah jetzt auch das Gesicht des Jungen. Er mochte tatsächlich einige Jahre jünger sein. Im Gegensatz zu ihr ein leeres und unintelligentes Gesicht, wohlgeformt und ebenmäßig, aber eher von der nichtssagenden Schönheit eines Disko-Jünglings. Seine Zähne standen ein wenig vor. Warum sie ihn nur repliziert haben?, dachte er.
Sicher deutete es darauf hin, dass er weniger dumm und einfältig war, als er aussah. Aber selbst wenn er ein mathematisches Genie oder eine künstlerische Begabung war: man hätte wenigstens seine Zähne richten können.
Der Junge schlug einen anderen Band vor Vera auf, er zeigte mit begeisterter Handbewegung auf etwas, das ihm gleich darauf ein triumphierendes Lachen entlockte
Herrgott noch mal, jetzt habe ich sie in Gedanken tatsächlich Vera genannt, dachte Wargas und strich sich irritiert über die Stirn.
Er versuchte die Schrift auf dem Buchrücken zu entziffern. Trotz seiner scharfen Augen bereitete es ihm einige Mühe. Geschichte des Dreißig ... des Dreißigjährigen Krieges, ergänzte er, während das Mädchen auch schon den Folianten drehte, so dass er die Schrift aus den Augen verlor, ihn aufschlug und einen anderen beiseite schob. Ihre Fingerspitze fuhr über die Zeilen, sie las vorgebeugt, und ihre Lippen murmelten etwas, das er nicht verstand. Dann blätterte sie weiter.
Erstaunen lag in ihrer Miene – wie bei einem Kind, das etwas Verbotenes entdeckt und überrascht ist, wie viel sich dahinter verbirgt und als wie gewaltig und groß sich die Welt entpuppt, dachte er unwillkürlich. Einige der nächsten Seiten waren Kupferstiche. Sie winkte ihren Begleiter heran, und beide beugten sich über die Bilder mit einem Ausdruck kindlicher Freude, in dem zugleich Betroffenheit lag. Es schien sich um Darstellungen von Schlachten zu handeln: Pferde und Reiter, Zelte und einem großen Feldlager, die Porträts zweier Heerführer, wenn er richtig vermutete. Der Bärtige mit dem langen weißen Kragen mochte Wallenstein sein.
Plötzlich begriff er. Sie hatten das Antiquariat geplündert. Ein paar Schränke an der Hinterwand des Lagers, die von den Purificateurs übersehen worden waren.
Wargas war oft von dem jüdischen Händler auf jene Schätze hingewiesen worden, die besonders gehütet oben in einem zweiten Lager aufbewahrt wurden.
„Eine Wertanlage“, pflegte er augenzwinkernd zu versichern und kraulte geschäftstüchtig seinen Bart. „Mit den Jahren immer kostbarer. Wenn Sie nicht zugreifen, tut‘s ein anderer.“
Sie waren liegengeblieben.
Damals interessierte sich schon niemand mehr für alte Geschichte, man hatte genug damit zu tun, die Gegenwart im Auge zu behalten, deren Generäle sich in finsteren atomaren Drohungen ergingen.
Da Wargas ganz von seinen Fachbüchern und wissenschaftlichen Zeitschriften in Anspruch genommen war, pflegte er nie mit mehr als einem halben Ohr hinzuhören.
Doch er erinnerte sich jetzt, dass dieses zweite Lager hinter einer Tür lag, durch deren große Scheibe man auf kleine Stapel antiquarischer Schulbücher sah, weniger wertvoll als die Bände, die er in einem sicheren Wandschrank verwahrt hatte.
Alte Geschichte also. Das war es, was sie interessierte. Wahrscheinlich auch die neuere. Es bestätigte nur, was er schon wusste. Ihre Erinnerung aus der Zeit vor dem Krieg war ein blinder Fleck, ein Nichts.
WEDA hatte allen, die bei Ausbruch des Krieges älter als fünf oder sechs Jahre waren in den ersten Wochen mit den Notrationen der fahrenden Küchen Storantinium 3 verabreicht, eine Weiterentwicklung von Storantinium 2, das schon früher entdeckt worden war. Er kannte es recht gut aus seinen neurologischen Arbeiten. Es war eine Substanz, die Langzeiterinnerungen auf Dauer zu blockieren vermochte, wenn man sie in richtigen Abständen und ausreichender Dosierung verabreichte. Die Neuen schienen durch eine Einstellung ihrer Erbanlagen besonders gut darauf anzusprechen.
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