Erst durch einige recht simple Einsichten in den Zusammenhang von Charakteranlagen und Gen-Chirurgie (für die WEDA in Lyon als erste Firma der Medizingeschichte den Nobelpreis in Biologie erhalten hatte), war es gelungen, den alten Evolutionstraum zu verwirklichen.
Wargas bezweifelte keinen Moment, dass es der richtige, der einzige Weg war, eine neue Phase in der Evolution, die sich der Mittel der Technik und der modernen Medizin bediente, um das zu erreichen, was durch freien Willen, durch Einsicht, Aufklärung und Appelle nie möglich gewesen wäre.
Er hatte einige Zeit gebraucht, bis er begriff, wie ungewöhnlich die Entwicklung in der Tat verlief – Wächter und Melanchton im ehemaligen Debattierklub des Krankenhauses, vor allem Melanchton, hätten ihre helle Freude daran gehabt, ihn zu widerlegen, aber sie waren tot, der eine von einer schnell verlaufenden Lungenentzündung hinweggerafft, der andere ein Opfer seiner entzündeten Gehirnhaut.
Es war auch nicht ganz einfach zu verstehen, auf den ersten Blick in den Augen der Alten recht zweifelhaft wenn nicht sogar obskur:
Nach all den Zwischenstufen biologischer und geistiger Art, über die tierische Existenz, über Moral und Religion (erbärmlicher Krücken, wenn man sah, was sie angerichtet hatten), schließlich über das Zeitalter der Aufklärung, den neuzeitlichen Atheismus und die Periode liberaler Rechtsstaaten, sollte sich die Natur nun plötzlich der ärztlichen Kunst und medizinischen Technik bedienen?
Gewiss war das vorausgegangene Stadium an seinen eigenen Schwächen zugrunde gegangen. Es hatte an den letzten Zielen scheitern müssen wie alle vorhergegangenen Entwicklungsstufen, weil es von Anfang an nur Durchgang war – und weil es den alten Werten nicht mehr über den Weg traute.
Nach all diesen Phasen was das Unfassliche geschehen und ein Wachstum eingeleitet worden, das den gewöhnlichen Mitteln der Mutation und Selektion niemals offengestanden hätte.
Man bewegte sich auf den Trümmern der Vergangenheit, für die man nur Verachtung übrig hatte, aber sie bildeten das Fundament.
Wargas interessierten die geschichtsphilosophischen Hintergründe brennend; leider gab es niemanden außer dem imaginären Partner seiner Selbstgespräche, den er von ihrer Wichtigkeit hätte überzeugen können.
Er glaubte den ganzen scheinbar wirren und hilflos tastenden Evolutionsstrang plötzlich überschauen zu können. Schon das allein, diese Einsicht, rechtfertigte es, zu überleben. Er nahm an, dass WEDA in Lyon, dass die führenden Köpfe dort, die „Eierköpfe“, die man niemals oder nur ganz selten zu Gesicht bekam, sich über das alles im klaren waren wie er selbst. Er hoffte es. Er setzte es voraus.
„Wir leben in einer uneinigen, verstörten, verwirrten Welt“, hatte es noch vor zwei Jahren geheißen; nun war sie offensichtlich auf dem besten Wege, die Fehler der Vergangenheit abzuwerfen.
Er ging unter den überhängenden schwarzen Armen einer Lichtreklame hindurch und im Schatten der löchrigen Markisen weiter, die vor den Schaufenstern ausgefahren waren – manche mit herabhängenden Streifen, so als habe jemand versucht, sie feinsäuberlich an den gelben, roten und weißen Farbstreifen aufzutrennen; einige ihrer Enden rollten sich vor ihm in der Bordsteinrinne.
Nur wenige Schaufensterscheiben waren in der Reihe noch heil.
Wie überall sah man das gewohnte Durcheinander aus aufgerissenen Kartons und verstreuten Waren: Farbeimern, billigem Spielzeug, Toilettenartikel. Quarzuhren in bunten Plastikgehäusen.
Vor ihm auf dem Gehsteig stand ein Kinder-Dreirad. Es erinnerte ihn daran, dass er Vera Melanchton einige Blumen auf ihr kümmerliches Grab in den Höfen am Depot stellen würde. Kunststoffblumen, die der Wind verwehte, so, wie er alle ihre Vorgängerinnen verweht hatte.
Das Depot lag am Bahnhof. Irgendwo in der Nähe würde er auch übernachten. Er wechselte ständig den Platz, weil es zu riskant war, wieder in die Wohnung zurückzukehren.
Es ließen sich immer Spuren entdecken, sie brauchten nur genau hinzusehen. Eine frisch geöffnete Konservendose, Kaffeefilter, die noch feucht waren, geronnene Milch; dann die Lagerstatt, das Feuer, Ölkannen, noch warme Herde, weil es weder Gas noch Strom zum Kochen gab. Ein halb aufgerauchter Zigarettenstummel (keiner der Neuen rauchte) konnte ihn ebenso verraten wie die Petroleumlampe, deren Glühstrumpf neu aussah.
Nur wenn er in die Bergwerke ging, kehrte er manchmal zurück. Dort unten in ein paar hundert Metern Tiefe kam so leicht niemand hin; man musste die Förderkörbe durch Handkurbeln bewegen oder sich an Seilleitern hinunterlassen. Im Winter hielten sich die Temperaturen, was je nach Tiefe das Heizen erleichterte oder überflüssig machte, und es gab genügend Lampen und immer noch taugliche Akkus, mit denen man die kleinen elektrischen Schienenautos betreiben konnte, um durch Sohlen und Strecken zu fahren, soweit sie nicht überflutet waren, und irgendwo aus einem anderen Schacht ans Tageslicht zu kommen, einem Ort, den er noch nicht kannte.
Obwohl es gefährlich war, hatte er sich in einigen Häusern Depots angelegt, kleinere und größere: für Dinge des täglichen Bedarfs, Kerzen, Zündhölzer, Sicherheitsnadeln, auch Lebensmittel, die er nicht erst mühsam zusammensuchen musste, wenn er Appetit bekam. Vieles war ohnehin verdorben, überlagert.
Schokolade bekam einen weißlichen Belag und schmeckte muffig, Konservendosen blähten sich auf, wenn sich Gase entwickelten, oder rosteten durch; das Schlimmste von allem aber war, dass es kein frisches Brot gab; nur eingetrockneten Zwieback, Dosen-Graubrot aus Militärbeständen und gelegentlich etwas Knäckebrot, das sich aus mysteriösen Gründen frisch gehalten hatte – vielleicht, weil es in seiner Aluminiumfolie von der Sonne, die durch die eingestürzten Lagerdecken schien, nachgeröstet worden war.
In der Nähe eines dieser größeren Depots würde er sich heute nacht einrichten, wenn er Veras Grab besucht hatte. Weit genug vom Bahnhof entfernt, wo sie zuerst nachforschten, weil sie meist vom Zentrum ausgingen und dann erst in die Randbezirke ausschwärmten.
Er blieb stehen, weil ihm die Seite gefiel, die er in der Universitätsbibliothek aus einem alten Roman gerissen hatte; er nahm das gefaltete Papier heraus und warf einen Blick darauf, dabei beschattete er seine Augen mit der Hand, denn die Sonne brannte stärker als in früheren Zeiten. Er hatte sich nie an ihr neues grelles Licht gewöhnen können.
„Fortschritt wird vielleicht von Historikern wahrgenommen; er kann nicht von denen empfunden werden, die wirklich in diesen vermeintlichen Vorwärtsgang verwickelt sind. Die Jungen werden in die fortschreitenden Umstände hineingeboren, die Alten nehmen sie binnen weniger Monate oder Jahre für gegeben. Fortschritte werden nicht als Fortschritte empfunden …“
Nun, das war diesmal anders (Wargas ließ das Blatt achtlos fallen; es interessierte ihn nicht mehr). Für frühere Zeiten mochte es stimmen. Jetzt galten andere Gesetze. Selbst die Neuen empfanden sich als Fortschritt. Nicht, dass man es ihnen eingeredet hätte. Sie benötigten keine Ideologie. Wenigstens an dem gemessen, was vor ihrer Zeit üblich gewesen war.
Vor ihm ragte ein schiefer Eisenträger aus dem Boden, etwa zwei Stockwerke hoch.
Er stand in der Mitte eines kleinen Platzes neben der Straßenkreuzung, rostbraun, im Profil etwas breiter als gewöhnliche Eisenträger, aber ohne jede Zierde, das Ende glatt abgetrennt, und war so postiert, dass man ihn sehen musste, wenn man aus dem Bahnhof kam. Er schien das musische Verständnis der Stadtväter belegen zu wollen.
Schrottabfall oder ein Meisterwerk der modernen Kunst?
Nicht weit entfernt davon war das Arbeitsamt. Es hatte in den letzten Jahren vor dem Krieg, als sich die Wirtschaftskrise zuzuspitzen begann, zwei Seitenflügel anbauen müssen, um den Andrang zu bewältigen. Doktor Wargas erinnerte sich noch deutlich, wie viel Kritik es wegen dieser „Skulptur“ gegeben hatte, die manche für den überspannten Geschmack eines avantgardistischen Bildhauers hielten, der vielleicht doch nichts weiter war als ein geschickter Spieler mit der Dummheit jener sogenannten Kunstverständigen ...
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