Geschafft!
Na also, geht doch, dachte sie triumphierend, als sie mehr oder weniger unbeschadet auf der wackligen Räderpritsche angekommen war.
Die Männer sperrten ganz verdattert Mund und Nase auf und brachten das Gefährt vorsichtig in Bewegung.
Die Flügeltür am Heck des Krankenwagens stand weit offen. Der Fahrer stand rauchend daneben. Als er seine »Fracht« anrollen sah, nahm er einen letzten tiefen Zug, bevor er die Zigarette zu Boden warf und die Kippe notdürftig austrat.
»So, immer schön vorsichtig mit dem Mädel. Guckt mal, da ist was heruntergefallen.«
Das kümmerte aber die beiden Krankenpfleger nicht, sie waren damit beschäftigt, die Trage mitsamt der Schwerverletzten im Transportfahrzeug zu verankern. Der einäugige Blick der Patientin traf den des Fahrers, und der hob nicht nur einen lila Kugelschreiber und einen Schreibblock von der betonierten Zufahrt auf, sondern auch seine Kippe, die er in den Abfallkorb brachte.
Auf dem Rückweg las er, was in fast kindlicher Handschrift auf dem Block stand: Ich bin kein Gulasch!
Er reichte der jungen Frau den Block und den Stift, ohne zu fragen, welche Bewandtnis es mit dem seltsamen Satz hatte. Wozu auch, sie hätte ihm doch sowieso nicht antworten können.
Noch nicht.
10. Unerhörter Gesprächsstoff
Marlenes schwerer Unfall war auch nach Wochen noch Stadtgespräch in Schwarzwasser, natürlich auch in der Klinik. In einem Vierbettzimmer saßen drei Frauen hoch aufgerichtet in ihren Betten, hatten aufgehört zu tuscheln und schauten erwartungsvoll zur Tür. Doch von dem angekündigten Neuzugang war noch immer nichts zu sehen. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis auch das vierte Bett in ihrem Zimmer belegt sein würde.
Als Marlene auf der wackligen Krankentrage durch den Flur gerollt wurde, standen mehr Patienten als sonst Spalier.
Hinter vorgehaltener Hand raunten sie sich zu, dass sie ja so fruchtbar nun auch wieder nicht aussähe … hm, wer weiß, wenn erst der Verband vom Auge entfernt werden würde … ob es womöglich tatsächlich nicht mehr in seiner Höhle sei?
Marlene war das Raunen und Wispern der Leute äußerst unangenehm, fast wie am Unfalltag Ende April.
Sie schloss die Augen, während sie noch immer einen langen Flur entlanggeschoben wurde. So sah sie zwar nicht die vielen Gestalten, was aber nicht hieß, dass sie nicht gesehen wurde.
Auch den Stimmen entging sie dadurch keineswegs.
»Das war ja innerhalb einer Woche schon der zweite Unfall in Blocksdorf!«
»Klar, auch mit Schädelbasisbruch und allem Drum und Dran …«
Es waren Männer, die genüsslich auch noch so manches andere Detail aus den beiden Unglücksfällen erörtern würden. In dem Punkt war sich Marlene fast sicher.
Und da heißt es immer, dass nur Frauen gerne tratschen , dachte sie und öffnete die Augen. Über den kleinen, aber unverkennbaren Anflug von Heiterkeit, den die beiden Gestalten in ihren abgewetzten Bademänteln in ihr auslösten, war sie selbst überrascht.
Dass sie durch den Unfall zu einer Art Berühmtheit in dieser Region geworden war, interessierte sie kaum. Sie wollte nur so schnell wie möglich gesund werden.
Rumms! Was war das? Sie war mit der mobilen Trage gegen eine Zimmertür gestoßen. Von drinnen riefen mehrere fröhliche Stimmen »Herein!«
Einer der Pfleger öffnete die Tür. Marlene wurde ins Zimmer geschoben und sofort in ihr frisch bezogenes Bett gehoben. Sie war recht dankbar dafür, denn ein zweites Mal, von einer Liege auf die andere? Wer weiß, ob sie das geschafft hätte. Kaum hatte sie sich ins Kissen sinken lassen, hörte sie ein kratziges »Guten Tag«. Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen! Das war doch ihre eigene Stimme? Sie konnte sprechen?
Das wollte sie gleich noch einmal probieren.
»Guten Tag – oh mein Gott, ich kann ja sprechen!«
Ihre Worte schallten wie ein Jubelschrei durch den Raum.
»Guten Tag!«, schallte es gleich dreifach zurück, begleitet von fröhlichem Gelächter.
Die Krankenpfleger zwinkerten Marlene und auch der inzwischen eingetroffenen Schwester zu und ließen sich von der guten Stimmung anstecken.
Eine kleine, dünne Oma, hinten rechts am Fenster, fasste sich als Erste wieder und fragte trocken: »Wieso, waren Sie taubstumm?«
Der Schalk in ihren Augen war nicht zu vergleichen mit dem Habichtblick ihrer Bettnachbarin aus der vorigen Klinik. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Marlenes Gesicht, aber dann verließ sie die Kraft …
Was wohl die Kinder und Jürgen sagen würden, wenn sie wüssten, dass sie schon sprechen und sogar lachen konnte? Bei diesem Gedanken fühlte sie, wie sich das Lächeln wieder auf ihrem Gesicht breitmachte.
Die andere Frauen im Zimmer bemerkten erstaunt, dass die junge Frau selbst im Schlaf noch ein Weilchen lächelte.
11. Endlich wieder sehen können?
So vergingen die Tage in regelmäßigem, Krankenhaus üblichem Rhythmus. Fieber messen, Puls fühlen, waschen, Betten machen, Stäubchen aufwirbeln, Schieber, waschen, Frühstück, Visite, Medikamente. Untersuchungen, Mittagessen, Schieber, Waschen, Schlafen, Vesper.
Besuchszeit – schönste Zeit!
Allerdings durften Besucher damals nur mittwochs, samstags und sonntags kommen. Dieser Tag war erst Dienstag.
Dafür gab es ein anderes, fast ebenso freudiges Ereignis. Der Kopfverband wurde Marlene endgültig abgenommen. Auch sollte sie mal mit dem linken Auge probieren zu gucken. Eine freundliche Ärztin, vielleicht so um die vierzig, saß an Marlenes Bett.
»Öffnen Sie bitte das Auge«, bat sie und hielt einen Kugelschreiber mit der Spitze nach oben in einem Abstand von etwa einem halben Meter vor das Gesicht der Patientin.
»Was sehen Sie?«
Marlene sah tatsächlich etwas: zwei Hände, zwei Ringe, zwei Kugelschreiber mit metallenen Spitzen. Vorsichtig beäugte sie die andere Hälfte der Ärztin. Aber auch dort befanden sich zu allem Überfluss noch zwei Arme, zwei Hände und so weiter. Da war doch offenbar etwas faul!
»Kann es sein, dass ich alles doppelt sehe?«
Die Ärztin nickte. Ein wenig nachdenklich und bekümmert, wie es Marlene schien.
»Aber das kriegen wir schon wieder hin«, wiegelte sie gleich darauf ab. »Wir fahren noch heute zur Gesichtsfeld-Kontrolle. Das kann nur in dem Krankenhaus vorgenommen werden, in dem Sie in den ersten Wochen nach Ihrem Unfall gelegen haben.«
Was? Wieder zurück nach Hoywoy? Hätten die das dort nicht gleich mit erledigen können?, schoss es Marlene durch den Kopf. Laut sagte sie nichts, denn sie schätzte das womöglich völlig falsch ein. Da war es erst einmal besser, seine Gedanken für sich zu behalten.
In dem anderen Krankenhaus verlief die Untersuchung flott und reibungslos.
Wenn Marlene allerdings geglaubt hatte, dass danach alles gut sein würde, so hatte sie sich getäuscht.
Für ihre Augen änderte sich auch nach der Kontrolle und der sich daran anschließenden Therapie nicht sofort etwas. So hatte Marlene noch einige Wochen lang das zweifelhafte Vergnügen, alles doppelt und übereinander zu sehen.
Nur ganz allmählich passten sich ihre Sehnerven wieder der Umwelt an, und ihr Sehen normalisierte sich. Fast wie von selbst.
Inzwischen war es Juni geworden.
Wie groß war die Freude, als sie ihrer Familie berichten konnte, dass der Gips von ihren Beinen bald abgenommen werden könnte.
In diesen Wochen hatten sie wirklich schon alle besucht: Birgit war mit der Schönberg-Oma aus dem Erzgebirge angereist, Karsten mit Jürgen aus Blocksdorf und ihr Nachkömmling Alex mit Oma und Opa aus dem Spreewald.
Ihr Mann kam natürlich auch allein ins Krankenhaus, nur die Abstände zwischen seinen Besuchen wurden immer größer.
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