Sie vergaß alles um sich herum, während sie sich auf die Bewegungen ihres Gegners konzentrierte. Sie hielt das Heft fest in der Hand, spürte, wie das Florett zu einer Verlängerung ihres Armes wurde.
Er griff an, sprang zurück. Dann griff sie an und er wich zur Seite aus. Aktion und Reaktion. Geben und Nehmen. Sie fühlte eine magische Chemie, der Funke sprang über. Fechten konnte so sinnlich wie Tanzen sein. Laura war eine sehr gute Tänzerin.
Eine Schnalle an ihrer Weste löste sich plötzlich und lenkte sie für einen Moment ab.
Ihr Gegner griff an!
Laura zuckte zurück, als er mit seinem kräftigen Körper vorschnellte, während sein Florett die Luft zerschnitt und die scharfe Klinge mit einem pfeifenden Geräusch an ihrem Ohr vorbeischoss. Laura mühte sich mit ihrem Westenverschluss ab. Konnte der Typ denn nicht sehen, dass sie Schwierigkeiten hatte? Warum hörte er denn nicht auf?
Die Zuschauer schnappten hörbar nach Luft.
„Pass auf!“, rief jemand.
„Greif an!“, brüllte ein anderer.
Bevor Laura reagieren konnte, überrumpelte ihr Gegner sie mit einem plötzlichen Ausfall und warf sie um. Das Florett flog ihr aus der Hand und landete polternd auf dem Boden, als sie ungeschickt hinstürzte. Einen Moment lang saß sie ganz benommen da und blickte zu dem Meer von fremden Gesichtern hoch, die sie anstarrten.
„Sie ist verletzt!“, rief jemand.
„Hat er sie getroffen?“
Durch das dichte Drahtgeflecht der Maske sah Laura die Zuschauer von den Bänken aufspringen und auf sich zueilen. Ihr Herz hämmerte wild unter der Weste. Am liebsten wäre sie in einem Loch im Fußboden versunken. Sie war so geschockt und verlegen, dass ihre Augen feucht wurden. Plötzlich wurde sie von starken Armen hochgehoben und in den Geräteraum hinter der Halle getragen.
Es war ihr Gegner.
Mit dem Fuß kickte er Basketbälle, Volleybälle und andere störende Gegenstände beiseite und setzte Laura vorsichtig auf einen Stapel Matten. Gleich darauf erschien Claudia Mertens.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie.
„Ja, mir ist nichts passiert“, murmelte Laura.
„Ich glaube, ihr Stolz ist mehr verletzt als alles andere“, meinte ihr Florettgegner.
„Macht es dir etwas aus, wenn ich die Demonstration in der Halle fortsetze?“, fragte Claudia Mertens.
„Nein, machen Sie nur weiter“, erwiderte Laura, nahm die Maske ab und strich über die wunde Stelle an ihrem Hinterkopf, wo die Metalllasche in die Haut geschnitten hatte.
Ihr Florettgegner kniete neben ihr.
„Tut mir leid, Laura“, sagte er sanft, als er seine Fechtmaske herunterzog.
„Du!“
Laura starrte Cedric Vogt an.
Seine rehbraunen Augen funkelten in einer Mischung aus Besorgnis und Belustigung. Sein verschwitztes Gesicht ließ ihn noch attraktiver wirken. Was hatte er bloß an sich, was ihre Gefühle jedes Mal so umkrempelt und das Unterste zuoberst kehrte.
„Du!“, sagte sie wieder und fühlte, wie Wut in ihr hochstieg.
„Richtig. Ich!“, erwiderte Cedric grinsend. „Es freut mich auch, dich wiederzusehen.“
„Wo hast du so fechten gelernt?“, fragte sie aufgebracht, zog ihre Handschuhe aus und wischte sich die feuchten Hände an ihrer Weste ab.
„In Schottland“, antwortete Cedric.
„Wie kommst du nach Schottland?“
„Gute Frage“, sagte er nachdenklich. „So genau kann ich dir das gar nicht beantworten.“
„Hast dort gelernt, so unfair zu kämpfen? Man überrumpelt einen Gegner nicht!“
„Ich habe in Schottland gelernt, wie man überlebt. Außerdem habe ich es nicht absichtlich getan. Ich könnte dir niemals wehtun“, erwiderte Cedric und wirkte leicht beleidigt.
„Darauf wette ich!“
„Aber du hast Recht“, sprach er weiter. Er hakte seine Weste auf, zog sie aus und hängte sie über eine Gewichtsstange. Dann hockte er sich neben Laura auf die Matte. „Ich war nicht so konzentriert, wie ich es hätte sein müssen.“
„Du kannst doch nicht einfach so mit einem Florett herumfuchteln, ohne dich auf den Menschen zu konzentrieren, auf den du zielst.“
„Ich habe ja schon zugegeben, dass du Recht hast. Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe“, sagte Cedric leicht niedergeschlagen.
Laura fühlte Schweißperlen an ihren Schläfen herabrinnen. Sie fühlte eine merkwürdige Unruhe, wusste jedoch nicht, ob sie vom Florettkampf oder von Cedrics Nähe kam.
„Macht es dir etwas aus, mir zu erzählen, was draußen passiert ist. Warum bist du gestürzt?“, fragte er und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Der besorgte Klang seiner Stimme überraschte Laura.
Er blickte sie mit seinen rehbraunen, feurigen Augen an. Laura schluckte. Cedric streckte den Arm aus und legte seine starke Hand um ihre Schulter. Sie spürte die Glut seiner Haut durch ihr T-Shirt.
Laura rutschte unbehaglich hin und her. Sie wusste nicht so recht, was mit ihr geschah.
„Warum bist du nicht zurückgetreten, als du gesehen hast, dass ich Probleme mit meiner Weste hatte?“, fragte sie.
„Ich habe es nicht bemerkt, ich würde doch niemals...“, stammelte er. „Ich bin immer sehr vorsichtig.“
Aus der Halle hörte man gedämpften Applaus.
„Ist die Show bereits zu Ende?“, fragte Laura.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Ich bin erst das zweite Mal in dem Florettkurs.“
„Wie bitte?“, fragte sie entsetzt. „Nach zwei Trainingsstunden kannst du bereits so gut fechten?“
Er nickte mit dem Kopf und blickte ihr tief in die Augen. Seine Unsicherheit überraschte Laura und ließ ihr ein erregendes Prickeln den Rücken hinunterrieseln. Sie hielt seinen Blick fest wie ein Magnet und konnte nicht woanders hinschauen, selbst wenn sie gewollt hätte.
Aber sie wollte auch gar nicht!
Sie rückte ein Stückchen ab und zuckte zusammen, als sie einen stechenden Schmerz in ihrem Rücken spürte.
„Was ist los?“, fragte er besorgt.
„Keine Ahnung. Ich muss mich irgendwie am Rücken verletzt haben, als ich hingefallen bin.“
Laura rollte sich auf die Knie und machte einen Katzenbuckel. Der dumpfe Schmerz am Ende ihres Rückgrats strahlte bis zu den Hüften aus.
„Vielleicht solltest du ein paar Schritte gehen.“
Cedric stand auf und hielt ihr seine Hand hin, um ihr hoch zu helfen.
Laura ließ ihre Hand in Cedrics gleiten und fühlte, wie sich seine starken Finger um ihre schlossen. Er zog sie sanft hoch, als wäre sie federleicht.
Einen Moment lang standen sie da und blickten sich schweigend in die Augen. Laura hatte das Gefühl, die Wände des kleinen Raums kämen langsam auf sie zu. Ein erregender Schauer lief ihr zwischen den Schulterblättern herab. Sie zwang sich, einen Schritt von Cedric wegzutreten, auf ungefährlicheren Boden.
„Alles okay?“, fragte er.
Sie beugte sich vor, zurück, nach rechts und links, checkte die Beweglichkeit von Beinen, Hüften, Rücken und Armen.
„Meine Hüfte tut weh, aber gebrochen ist sicher nichts.“
„Das ist schon mal ein Anfang.“
Sie wanderten langsam auf und ab in dem kleinen Raum, schlängelten sich zwischen Gewichtsbänken und Sportgeräten hindurch. Ihr Rücken schmerzte, trotzdem war es schön, so neben Cedric herzugehen. Es fühlte sich gut an, dass er sich Sorgen um sie zu machen schien.
Cedric brachte Laura zur Tür. Als er sie gerade für sie öffnen wollte, hielt er plötzlich inne und blickte Laura intensiv an.
Sie versuchte, nicht in seine funkelnden Augen zu sehen, versuchte, nicht auf diesen seltsamen kleinen Sprung zu achten, den ihr Herz machte.
„Kann ich dich anrufen?“, wollte Cedric wissen „um zu hören, wie es dir geht?“
„Sicher, warum nicht?“, antwortete sie und gab ihm ihre Handynummer.
„Gut.“
Er griff über sie hinweg und stieß die Tür auf.
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