und witterten ein Raubtier auf große Entfernung, wenn der Wind günstig
stand und den alarmierenden Geruch zu ihnen herantrug. Auch Nedeams
Pferd hatte eine gute Nase und ergänzte auf diese Weise den geschärften
Augensinn des Jungen, den er für den Fall brauchte, dass sich der Räuber
gegen den Wind anschlich.
Jetzt neigte sich der Tag, und die Schatten wurden länger, ohne dass
Nedeam die Fährte der Raubkralle entdeckt hätte. Vielleicht war sie längst
weitergestreift, doch Nedeam spürte, dass sie noch in der Nähe war und
hungrig darauf lauerte, erneut zuzuschlagen.
Aber irgendwann würde Nedeam schlafen müssen. Er konnte seine Augen
nicht die ganze Nacht offen halten, denn seit Tagen war er allein und hatte
nicht mehr richtig geschlafen. Auch diese Nacht würde er nicht in seiner
Bettstatt verbringen, sondern auf dem harten Boden der Hochmark.
Nedeam prüfte die Windrichtung und suchte nach einer günstigen Stelle
für seinen Lagerplatz. Zwischen zwei niedrigen Felsen, die etwas Schutz vor
Wind und Sicht boten, wurde er fündig. Jeder gute Pferdelord wählte sein
Nachtlager mit Bedacht, denn man wollte sich nicht im Schlaf von einem
Räuber überraschen lassen, mochte er nun zwei oder mehr Beine haben.
Während Nedeam schlief, würde sein Pferd für ihn Wache halten.
Nedeam schob die größeren Steine zur Seite, ebnete den Boden, so gut es
ging, und breitete seine Decke darüber. Dann nahm er Wasserflasche und
Provianttasche von seinem Pferd und klopfte diesem anerkennend auf die
Flanke. Der Hengst schnaubte leise und trabte dann zum Wasserloch hinüber,
um seinen Durst zu stillen und selber ein wenig von dem Gras zu zupfen. Viel
hatten die Wolltiere nicht übrig gelassen. Aber auch in Nedeams Provianttasche
fand sich kaum noch etwas. Morgen würde er die Wolltiere in ein anderes Tal
treiben müssen und bei der Gelegenheit auf dem Gehöft seine Vorräte
auffüllen.
Er aß etwas Brot und Wolltierkäse, dazu ein paar Trockenfrüchte, dann legte
er Bogen und Pfeilköcher griffbereit neben sich und hüllte sich in den langen
grünen Umhang. Er war so müde, dass er fast augenblicklich einschlief.
Nedeam erwachte, als der Hengst leise schnaubte und mit dem Kopf sanft
an seine Füße stieß. Der junge Pferdelord war schlagartig wach und spürte die
Gefahr, die sein Pferd zuerst bemerkt hatte. Nedeam sah zu seinem Reittier,
dessen Kopf mit geblähten Nüstern in eine bestimmte Richtung wies. Der
große braune Hengst mit dem lang gezogenen weißen Fleck auf der Stirn war
gut ausgebildet und kampferfahren. Nedeam vertraute auf Stirnflecks Instinkt.
Er nahm den Bogen, zog drei Pfeile aus dem Köcher und erhob sich lautlos.
Vorsichtig spähte er über einen der Felsen hinweg in die Richtung, in die
Stirnfleck witterte.
Die Nacht war nicht ganz sternenklar. Immer wieder schoben sich Wolken
vor Mond und Sterne, und die Schatten gaukelten Bewegung vor, wo keine
war. Nedeams Blick suchte Talboden und Hänge nach den lang gestreckten,
schlanken Umrissen einer Raubkralle ab, welche sich beim Anschleichen an
die Beute üblicherweise tief zu Boden duckte.
Dann entdeckte er den Räuber. Es war tatsächlich ein junges Tier, nicht
besonders groß, sogar kleiner als ein ausgewachsenes Wolltier, aber dennoch
war es tödlich. Die Raubkralle stand starr auf dem Hang, und nur die
Bewegungen ihres Kopfes und das nervöse Zucken des langen Schwanzes
verrieten, dass Leben in dem Körper war.
Nedeam war ein guter Bogenschütze, einer der besten, wie man sagte.
Aber das wechselhafte Licht und die Entfernung ließen keinen sicheren
Schuss zu. Er entschloss sich zu warten, bis das Raubtier näher kam, dann
bemerkte er, wie die Raubkralle zu ihm hinübersah, und blickte rasch zur
Seite. Niemals einem Ziel in die Augen sehen, hatte Dorkemunt ihm
eingeschärft. Es könnte spüren, dass man es ansah, die Gefahr erahnen und zu
fliehen versuchen. Oder es könnte angreifen.
Genau das tat die Raubkralle nun. Sie griff an, was Nedeam überraschte,
denn es war ungewöhnlich, dass ein Räuber es riskierte, verletzt zu werden.
Es musste ein unerfahrenes Tier sein, und sicher war ihm noch kein
Pferdelord mit Nedeams Fähigkeiten begegnet.
Nedeam blickte der heranschnellenden Raubkralle entgegen und fand
sogar noch Zeit, die Anmut ihrer Bewegungen zu bewundern, während er
seinen Bogen in Position brachte. Er wartete, bis die Raubkralle wieder mit
einem langen Satz vorschnellte und sich ihr Leib für einen Moment über den
Boden hob, dann löste er den Pfeil. Und während dieser noch durch die Luft
zischte, legte er schon den zweiten an den Bogen.
Aber er brauchte ihn nicht mehr. Die Raubkralle überschlug sich in vollem
Lauf und prallte schlaff auf den Boden. Der leblose Körper rutschte noch ein
Stück über die Steine und blieb dann liegen. Mit schussbereitem Bogen trat
Nedeam hinter dem Felsen hervor und ging vorsichtig auf das Tier zu. Doch
die Raubkralle war unbestreitbar tot.
Nedeam schnitt seinen Pfeil aus dem Kadaver, denn es war ein guter Pfeil
mit geradem Schaft, glatter Befiederung und einer scharfen Spitze, die von
Guntram, dem Schmied, gefertigt worden war. Dass es ein Jagdpfeil und kein
Kriegspfeil war, erkannte man an der Stellung der Spitze zur Befiederung.
Die Rippen eines Tieres verliefen zumeist senkrecht, und so stand auch die
Spitze eines Jagdpfeils senkrecht auf den Federn, um leichter zwischen den
Rippen hindurchdringen zu können. Die Rippen eines Menschen oder Orks
dagegen verliefen zumeist waagrecht. Es gab auch Pfeile mit kegelförmigen
Spitzen, die für beide Zwecke geeignet waren, aber Nedeam schätzte sie nicht
besonders. Sie waren spitz und dünn und rissen zu kleine Wunden. Der
Getroffene verblutete nicht so rasch, und war der Schuss nicht auf Anhieb
tödlich, konnte das Opfer fliehen oder sogar noch Rache nehmen.
Der junge Pferdelord zückte seinen Dolch und begann den Räuber zu
häuten. Leider war das Fleisch einer Raubkralle nicht besonders schmackhaft,
im Gegensatz zu dem eines Pelzbeißers. Aber ihr weiches, dichtes Fell war
begehrt, und auch wenn diese hier nicht besonders groß war, so würde
Nedeam in Eternas dennoch einen guten Gegenwert dafür erhalten. Als er
fertig war, verscharrte er den Tierkörper, nahm das Fell und legte sich wieder
schlafen. In dieser Nacht würde seine Ruhe wohl nicht noch einmal gestört
werden.
Als der Morgen anbrach, erwachte Nedeam und freute sich darauf, endlich
wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht würde er die Wolltiere eine Weile am
Gehöft grasen lassen, denn er musste das Fell schaben und es von
Fleischresten befreien, sonst würde es verderben. Vielleicht ergab sich auch
die Gelegenheit, eine Weile auf der Bettstatt zu ruhen. Nedeam war sich nicht
sicher, ob er das verantworten konnte, aber als er schließlich das Gehöft
erreichte und beim Betreten der Schlafkammer seine Bettstatt erblickte, war
jeder Zweifel verflogen.
Man nannte es noch immer Balwins Gehöft, obwohl Balwin vor mehr als
drei Jahreswenden von den Orks getötet worden war und der Hof nun
Meowyn gehörte. Doch da Meowyn als Heilerin in Eternas lebte, führte ihr
Sohn Nedeam nun den Hof mitsamt der Wolltierzucht, und Dorkemunt, der
kleinwüchsige Pferdelord, half ihm bei Kräften an des Vaters Stelle.
Dorkemunt hatten Nedeam kennengelernt, als der damals Zwölfjährige allein
durch die Nordmark der Pferdelords streifte. Nedeam war auf der Suche nach
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