Und dann war da noch Oskars Mutter, Hanna Hagedonk, die mit Mädchennamen «von Münchenstein» hieß. Als Bommelmütz noch ein Kind war, hatte er Hannas Vater, Alexander von Münchenstein, oft im Haus seines Großvaters angetroffen. Von seinem Großvater wusste Bommelmütz, dass die Familie von Münchenstein früher sehr einflussreich, aber auch ständig in Geldnöten gewesen war. Bommelmütz nahm an, dass Alexander von Münchenstein und sein Großvater geschäftlich miteinander zu tun gehabt hatten. Was genau die beiden miteinander zu schaffen hatten, darauf hatte er vom Großvater aber nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten.
Alexander von Münchenstein machte keinen Hehl daraus, dass seine Tochter, Hanna, Benedikt Hagedonk, der im Übrigen nicht unattraktiv war, nur wegen seines Vermögens geheiratet hatte. Darüber hinaus deutete er an, dass Benedikt früher ein lüsterner Weiberheld gewesen sein musste. So oder so waren die beiden ein ganz spezielles Paar. Wenn man sie zusammen sah, und das konnte man oft in der Lokalpresse, drückten sie eine gewisse Noblesse aus. Die verwöhnte, arrogante Adlige und ihr hemdsärmeliger, extrovertierter Sugarboy, wie man sie unschmeichelhaft hinter ihrem Rücken nannte, wurden oft und gerne von der örtlichen Prominenz eingeladen. Sie machten etwas her und verliehen jeder faden Provinz-Veranstaltung einen gewissen Glamour. Hanna liebte den großen Auftritt in exklusiven Designerroben, und wo Benedikt auftauchte, floss der Champagner in Strömen.
«Hanna», so drückte ihr Vater es einmal stolz aus, «hat ihre Ehe aufs Beste arrangiert. Sie bringt mit unserem uralten Stammbaum Aristokratie in die Ehe mit diesem No-Name und er bedankt sich dafür bei ihr mit einem Haufen Geld. So bekommt jeder vom anderen genau das, was ihm fehlt. Eine romantische Liebesbeziehung haben beide weder gesucht noch erwartet.»
Seit den Vernehmungen der Hanna Hagedonk hatte sich bei Bommelmütz der Eindruck eingeschlichen, dass sie, nachdem sie ihrem Mann einen männlichen Erben geboren hatte, glaubte ihre Pflicht erfüllt und sich ein sorgloses Leben verdient zu haben. Etwa in der Art jedenfalls hatte sie es Bommelmütz gegenüber formuliert. Er erinnerte sich noch genau an die Vernehmungen der Hanna Hagedonk. In seinen Augen war sie die arroganteste Person, die ihm jemals untergekommen war. «Der Stammbaum meiner Familie ist älter als der so mancher Person aus dem europäischen Hochadel», ließ sie ihn gleich zu Beginn des Verhörs wissen. An die darauffolgende Bemerkung erinnerte er sich auch heute noch ganz genau, weil sie aufzeigte, wie diese Frau tickt: «Normalerweise sollte ich darauf bestehen, dass ich das Gespräch zumindest mit Ihrem Vorgesetzten führe. Sie sind nur ein gewöhnlicher Kommissar. Aber weil mein Vater Ihren Großvater gut kannte, mache ich bei Ihnen eine Ausnahme. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen und verhalten sich entsprechend. Ansonsten breche ich das Gespräch nämlich sofort ab.»
Bei den Befragungen stellte sich Hanna Hagedonk immer wieder quer und sie verhielt sich extrem unkooperativ. Nachdem sie am frühen Abend auf dem Hagedonkschen Hofgut gewesen war, war Betty von niemandem mehr lebend gesehen worden. Als Bommelmütz Hanna Hagedonk damals noch einmal befragen wollte und sie eines Tages gegen halb zwölf mittags in ihrem Haus aufsuchte, wies sie ihm mit einer abschätzigen Handbewegung die Tür. Er erinnerte sich noch sehr genau an die Szene. Angeblich hatte sie keine Zeit, weil sie am Abend eingeladen war und sich dafür zurechtmachen musste. Bommelmütz dachte an die vielen Frauen in seinem Umfeld, die Kinder, einen Beruf, ihren Haushalt und wer weiß noch was alles managten. Entweder verfügte Hanna Hagedonk wirklich über ein extrem schlechtes Zeitmanagement oder sie demonstrierte auf diese Weise, dass sich alle nach ihr zu richten hatten und es keinesfalls umgekehrt war. Bommelmütz tippte auf Letzteres. Diese Frau schien davon auszugehen, dass es das natürliche Recht von ihr und ihrer Familie war, andere nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Ein gewisser Narzissmus ist bei Machtmenschen weit verbreitet. Er hatte dies in seinen Berufsjahren immer wieder erlebt. Die Grenzen sind allerdings fließend und es ist oft nur ein schmaler Pfad, ab dem Narzissmus gefährlich krankhaft wird. Auch dies hatte Bommelmütz während seiner Zeit bei der Polizei mehrmals erfahren müssen. Von daher stand Hanna Hagedonk ganz weit vorne in der Reihe seiner Verdächtigen, und er widmete dem Studium ihrer Person bei seinen Ermittlungen ganz besondere Aufmerksamkeit. Die Hagedonk kannte das Opfer, war nachweislich eine der letzten, die Betty lebend gesehen hatte, und sie wäre seines Erachtens sowohl intellektuell als auch handwerklich durchaus fähig gewesen zu dieser Tat. Einzig das Motiv wollte sich ihm nicht erschließen, und ohne ein solches war ihr der Mord nicht nachzuweisen.
Und noch ein weiterer Umstand rückte die alte Hagedonk in den Kreis der Verdächtigen. Wenige Wochen nach dem Tod von Benedikt Hagedonk und etwa drei Monate nachdem die tote Betty gefunden worden war, reiste Hanna mit ihrem Sohn Oskar zur Erholung in das Ferienhaus der Familie an den Gardasee. Bommelmütz holte nochmals kurz die Polizeiakte und studierte eine Stelle daraus, um die Details aufzufrischen: «Die Familie Hagedonk besaß seinerzeit ein Segelboot. Benedikt hatte es nur wenige Monate vor seinem Tod erworben. Das nigelnagelneue Segelboot mit dem Namen ‹Coniglietta› lag in Sirmione. Am Morgen des 19. Juli liefen Hanna, Oskar und ein Bekannter der Familie namens Flavio Moretti mit dem Boot trotz Sturmwarnung aus dem Hafen aus. Sie wollten auf eine nahe gelegene kleine Insel segeln, um dort zu Mittag zu essen. Es war gegen 11:00 Uhr vormittags, als der Sturm etwa die Stärke 8 erreicht hatte. Der Wind peitschte ihnen Wasser ins Gesicht und das Boot wurde wie eine Nussschale von den Wellen hin- und hergeworfen, aber zum Umkehren war es da schon zu spät gewesen. Nahe der Insel, die sie ansteuern wollten, war ihr Boot von einer Böe erfasst worden. Hanna Hagedonk und Moretti sagten unabhängig voneinander aus, dass die Wellen etwa meterhoch gegen die Seite des Bootes schlugen. Oskar versuchte das Boot aus dem Wind zu drehen. Bei diesem Manöver wurde es von einer besonders hohen Welle getroffen. Oskar, der als einziger keine Schwimmweste trug, stolperte über ein Tau, schlug mit dem Kopf gegen die Bordwand. Besinnungslos blieb er auf dem Deck liegen. Hanna Hagedonk und auch Moretti schilderten, dass sie sich wegen des Wellengangs selbst kaum halten und ihm nicht helfen konnten. Im nächsten Augenblick katapultierte eine hohe Welle Oskar förmlich über Bord. Hanna Hagedonk und Moretti sagten aus, im Gegensatz zu Oskar relativ unerfahrene Segler gewesen zu sein. Sie warfen ihm noch einen Rettungsring nach, aber im nächsten Augenblick war sein Körper bereits von der Wasseroberfläche verschwunden und nicht mehr zu sehen gewesen. Es dauerte gemäß ihren übereinstimmenden Angaben rund fünfzehn Minuten, ehe sie das Boot gewendet hatten und an etwa der Stelle zurückwaren, wo das Unglück passiert war. Der Rettungsring trieb auf der Gischt, aber von Oskar fehlte jede Spur. Die alarmierte Wasserschutzpolizei suchte die Stelle bis zum Einbruch der Dunkelheit akribisch ab. Hanna Hagedonk sagte aus: «Mein Sohn ist sportlich durchtrainiert und ein ausgezeichneter Schwimmer. Er ist Wettkämpfe geschwommen und hat viele Preise gewonnen.»
Da sowohl Hanna Hagedonk als auch Moretti ausgesagt hatten, dass Oskar, ehe er vom Boot gespült wurde, mit dem Kopf gegen die Bordwand geschlagen war, ging die Polizei davon aus, dass er zu dem Zeitpunkt, als er ins Wasser fiel, immer noch ohnmächtig gewesen war. Trotzdem klammerte sich Hanna Hagedonk an die Hoffnung, dass ihr Sohn sich schwimmend ans Ufer gerettet haben könnte. Die Suchaktion der Seerettung wurde am folgenden Tag auch auf die Uferbereiche ausgedehnt, blieb jedoch ebenfalls erfolglos. Zwei Tage später wurde auf der Insel, auf der sie zu Mittag essen wollten, der rechte Schuh von Oskar gefunden. Dieser rechte Schuh blieb alles, was man je von Oskar fand. Auch ein Tauchereinsatz blieb erfolglos. Der See ist an der Unglücksstelle etwa 150 Meter tief und von starken Strömungen durchzogen. Die italienische Polizei legte den Fall nach zwei Monaten zu den Akten. Zumal an fast genau derselben Stelle schon zwei ähnliche Unfälle passiert waren. Auch in diesen beiden Fällen hatte der See seine Opfer in seinem dunkelblauen Schlund verschluckt und nie mehr herausgegeben.
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