Er ging an diesem Abend entgegen seiner Gewohnheit sehr spät zu Bett. Der Nachbarkater, Tiger, war wie so oft zu Besuch gekommen und bekam von ihm zur Feier des Tages ein kleines Häppchen von dem restlichen Rinderfilet serviert, das er eigens für den Kater zurückbehalten hatte. Während Bommelmütz die Küche aufräumte und alles, was nicht in den Geschirrspüler sollte, von Hand spülte, hatte er die Polizeiakte auf dem Rüsttisch liegen. Gelegentlich warf er während des Abtrocknens oder während er die Gegenstände wieder an ihre angestammten Plätze zurückräumte einen Blick in die Akte.
Er kannte das Dossier mittlerweile so genau, dass er nicht lange suchen musste und die gewünschten Stellen auf Anhieb fand.
Gemäß den Unterlagen war Oskar Hagedonk der letzte Zeuge gewesen, der Betty vor ihrem Verschwinden lebend gesehen hatte. Wirklich seltsam. Oskar und Boone gelten beide seit langem als verschollen. «Gab es da einen Zusammenhang, und könnten die beiden mit Bettys Tod etwas zu tun gehabt haben?»
Bommelmütz resümierte: «Waren Oskar oder Boone entweder selbst die Täter und waren abgetaucht, weil ihnen der Boden zu heiß geworden war?» «Oder hat man sie verschwinden lassen?»
«Aber vielleicht ist das alles nur Humbug und die beiden hatten nichts, aber auch gar nichts mit dem Mord an Betty zu tun.» Diese dritte Option gefiel Bommelmütz gar nicht, weil sie ihn nicht weiterbringen würde. Aber nachdem, was er heute erkannt hatte, musste er auch diese Option ins Kalkül ziehen. Die Möglichkeit bestand durchaus, dass Oskars und Boones Verschwinden überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hatten und purer Zufall waren. Boone war ein schräger Vogel. Durchaus möglich, dass ihm die Sache mit dem Plattenvertrag zu verbindlich geworden war und er deshalb einfach das Weite gesucht hatte.
Vielleicht lebte er heute völlig zugekifft auf Ibiza oder in Meditation versunken in irgendeinem Kloster in Hinterindien. Bommelmütz hatte von Fällen gelesen, bei denen sich Leute eine Pille eingeschmissen haben und hinterher nicht einmal mehr ihren Namen wussten, geschweige denn, wo sie herkamen oder was sie vorher gemacht hatten. Bei Boone war alles denkbar. Und dem halbseidenen Oskar hatte man unter vorgehaltener Hand krumme Geschäfte mit zwielichtigen Partnern nachgesagt. Wenn das stimmte, war er vielleicht vor seinen Geschäftspartnern abgetaucht oder war gar von ihnen beseitigt worden? Der angebliche Unfall passierte in Italien. Womöglich steckte die Mafia dahinter? Wer weiß.
Was Bommelmütz am Fall Betty besonders belastete war neben der Tatsache, dass sich der Mord in seinem direkten Umfeld abgespielt hatte noch ein weiterer Umstand. Es war die perfide Art, wie die Leiche damals entsorgt wurde, oder besser gesagt, wie sie quasi öffentlich zur Schau gestellt worden war.
Nach Bettys Verschwinden hatte eine Polizeihundertschaft samt Hunden mehrere Tage lang akribisch einige Quadratkilometer der näheren Umgebung abgesucht. Ohne jeglichen Erfolg.
Auf der sogenannten «Krähenhöhe», einem kleinen Berg nahe einer stark frequentierten Zufahrtsstraße in die Stadt und von Weitem gut sichtbar, stehen drei große Eichen. Die Ortsjugend stellte traditionell jedes Jahr am Wochenende um den Martinitag eine Strohpuppe, quasi wie eine Vogelscheuche, auf die Krähenhöhe bei den drei Eichen. Diese Tradition besteht nachweislich schon seit Jahrhunderten. Niemand konnte genau sagen, wie und wann der Brauch entstanden war. Auch bei den drei Eichen war in der Woche nach Bettys unerklärlichem Verschwinden, und zwar exakt am 24. Februar, erfolglos gesucht worden.
Doch zwei Monate nach Bettys Verschwinden, genau am 15. April, war ein Jäger dann durch das seltsame Verhalten seines Weimeraners namens Tell nahe der drei Eichen irritiert worden. Der Hund steckte seinen Kopf in den Wind und schnüffelte. Der Jäger gab später zu Protokoll, ihm war klar, der Hund musste eine Spur in der Nase haben. Plötzlich zog und zerrte sein Hund an der Leine, während er Spurlaut gab. Dem Jäger war mulmig zumute gewesen, als ihn sein Hund zur Krähenhöhe und dort direkt in Richtung der Vogelscheuche führte. Weil er Tell kaum mehr halten konnte, nahm der die Leine sehr kurz und hielt den Hund ganz nahe bei Fuß. Schon als er sich den drei Eichen näherte, war dem Jäger ein Aasgeruch in die Nase gestiegen, der schier unerträglich wurde, je mehr er sich der Vogelscheuche näherte. Der Hund musste den Verwesungsgeruch natürlich schon sehr viel früher wahrgenommen haben und hatte ihn deswegen hergeführt. Auf dem Plateau angekommen, präsentierte sich dem Jäger ein grauenhafter Anblick. Etwa ein Dutzend Krähen flogen wilde Kapriolen zur Strohpuppe und zurück in die Zweige der drei Eichen, auf denen sie ihre Nester hatten. Dabei stießen sie fortwährend ohrenbetäubende Kreischlaute aus.
Eine grauschwarze, sehr große Krähe saß auf der rechten Schulter der Vogelscheuche, eine andere auf ihrem Kopf. Zwei weitere zankten sich flügelschlagend und hackten mit den Schnäbeln gegen ihre Brust. Sie waren eifrig dabei, die Strohverkleidung wegzureißen. Die war jedoch mit Garn stark festgezurrt. Immer wieder attackierten sich die schwarzen Rabenvögel gegenseitig und hackten mit ihren Schnäbeln aufeinander ein, während sie sich ganz offensichtlich um Fleischfetzen zankten. Der Jäger hatte schon sehr viele Kadaver aufgespürt und wusste instinktiv, womit er es zu tun hatte. Aber er konnte auch eins und eins zusammenzählen.
Seitdem Betty verschwunden war, war er stets mit mulmigem Gefühl durch den Wald gestreift. Er kam an Orte, die sonst nie jemand betrat, und daher war er stets darauf gefasst gewesen, das tote Mädchen irgendwo in einem abgelegenen Winkel des Waldes von Wildschweinen aufgegraben oder unter einem Haufen Äste zu entdecken.
Dass er sie jetzt aber quasi vor jedermanns Augen ausgestellt finden würde, damit hätte er niemals gerechnet. Das war in der Tat abscheulich. Der Jäger alarmierte mit seinem Mobiltelefon die Polizei und versuchte bis zu deren Eintreffen, so gut es ging, die grässlichen Vögel zu verscheuchen. Er hielt die Luft an und näherte sich bis auf wenige Schritte. Am Kopf hatten die schrecklichen Vögel die Strohummantelung fast gänzlich weggerissen und dadurch das Gesicht, oder besser das, was davon noch übrig war, freigelegt. Aus zwei leeren Augenhöhlen starrte ihn die Tote entsetzt an und schien zu fragen, warum ihr niemand zu Hilfe gekommen war? Dem Jäger, der ein hartgesottener Bursche war, wurde schlecht von dem Anblick und mehr noch vom Aasgestank. Er musste sich ins Gras übergeben und war froh, als schließlich die Beamten eintrafen und ihn von der ungesuchten Totenwache erlösten.
Bommelmütz war erst Tage nach Auffinden der Leiche zu dem Fall hinzugezogen worden. Nach dem Sichten der Tatortfotos war er extrem dankbar für diesen Umstand sowie dafür, dass er nicht mit zur Obduktion in die Gerichtsmedizin gemusst hatte.
Allein bei dem Anblick der Fundortfotos und beim Lesen des Protokolls liefen ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunter.
Als ob der Mord an sich nicht schon schrecklich genug gewesen wäre, so war das Vorgehen des Täters bei der Entsorgung der Leiche ein Affront wider die guten Sitten und die Menschlichkeit selbst gewesen.
Das Bild des als Vogelscheuche getarnten, mit Stroh umwickelten und an einen Pfahl festgezurrten toten Mädchens vor Augen ließ ihn nach einem abartigen und psychisch kranken Monster als Mörder suchen.
Aber vielleicht war auch das wieder nur ein Trugschluss und er musste sich von all diesen vorgefertigten Meinungen freimachen. «Was, wenn der Täter keinen anderen Weg gewusst hatte, sich der Leiche zu entledigen? Wenn es für ihn ganz einfach der bequemste und der naheliegendste Weg gewesen war?»
Immerhin, als Betty umgebracht worden war, war es Winter, eisig kalt und der Boden gefroren. Ein Grab auszuheben, hätte viel Kraft erfordert und wäre schwierig gewesen. Die meisten Seen und Teiche in der Region waren während Wochen zugefroren gewesen. Eventuell war das der Grund, warum der Mörder diesen Weg gewählt hatte. Tatsache war, dass die Leiche irgendwo zwischengelagert worden sein musste. Der Mörder musste also einen Ort gehabt haben, der zumindest während der Frostzeit, eine sichere Zwischenlagerung der Leiche ermöglichte. Erst danach hatte er sie auf die Krähenhöhe zu den drei Eichen gebracht. Das setzte Ortskunde voraus.
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