Bommelmütz seufzte tief, schlug die Akte zu, legte sie auf einen Stuhl und deckte sie noch mit der Tageszeitung ab, sodass sie keine Spritzer abbekommen sollte.
Es wurde jetzt wirklich höchste Zeit, dass er sich um sein Festmahl kümmerte.
Während Bommelmütz das Gemüse für den Fleischfond vorbereitete und das Baguette auf ein Schneidbrett legte, kam ihm ein weiterer Akteur in den Sinn: «Boone».
«Boone» hieß mit bürgerlichem Namen Peter Hufschmid. Aber Peter Hufschmid war ein ziemlich banaler Name für einen ausgesprochen exzentrischen Zweiundzwanzigjährigen, der vom Tod, dem Sterben und der Vorstellung vom Leben nach dem Tod gleichsam besessen war. Als Peter zwölf Jahre alt war, starb seine Großmutter. Weil seine Mutter psychisch labil und alleinerziehend war, war Peter zuvor hauptsächlich bei der Großmutter aufgewachsen. Nach dem Tod seiner geliebten Oma schien Peter irgendwie verloren. Er sonderte sich ab und war oft allein auf dem Friedhof am Grab seiner Großmutter anzutreffen. In dieser Zeit fing er an, Knochen zu sammeln. Er besaß eine ganze Kiste voll davon. Viele davon waren menschlichen Ursprungs und stammten wohl vom Friedhof, auf dem seit hunderten von Jahren unzählige Tote bestattet worden waren, deren Knochen bei Starkregen zuweilen aus der Erde freigespült wurden. Die Schulkameraden gruselten sich ein wenig vor Peter, nachdem seine Obsession bekannt geworden war.
Aber Peter hatte eine charismatische Ausstrahlung und war bei Lehrern und Mitschülern ob seiner großen Hilfsbereitschaft, Kreativität und Spontanität sehr beliebt.
Peter bekam von seinen Mitschülern bald den Spitznamen «Boone». Er mochte den Namen so sehr, dass er mit «Peter» abschloss und sich bald nur noch mit «Boone» vorstellte. Boone kleidete sich ausschließlich in Schwarz und gab vor, mit dem Jenseits in Kontakt zu stehen. Es war eine schrullige Spinnerei von ihm, gewiss. Er kiffte viel. Wer weiß, vielleicht kam er nach einem seiner Drogentrips einfach nicht mehr herunter, und die Phantastereien waren eine Folge. Tatsache war, Boone spinnte ein wenig, war aber auf seine ihm ureigene Art ein wirklich netter Kerl. Bommelmütz erinnerte sich noch gut, als er ihn eines Abends nach einem Konzert völlig zugedröhnt in einer Bar getroffen hatte. Boone versuchte den ganzen Abend, ihn davon zu überzeugen, dass der Tod die eigentliche Bestimmung des Menschen sei.
Boone redete allerlei wirres Zeug, das niemand so richtig verstand, und produzierte auf dem Synthesizer eine extrem exzentrische Musik. Er war so abgedreht, dass einige Leute aus der Musikszene auf ihn aufmerksam geworden waren. Ein Musikproduzent bot ihm sogar einen Plattenvertrag an. Boone zeigte sich überglücklich und posaunte die Geschichte von seinem Vertrag überall herum, ohne dass diesen wirklich jemand zu sehen gekriegt hätte. Er redete davon, dass er eine völlig neuartige Komposition im Kopf habe, die alles je Dagewesene in der Musikszene völlig auf den Kopf stellen würde. Für die anstehenden Aufnahmen seiner Komposition fehlte ihm neues Musik-Equipment, das er vom Vorschuss des Plattenvertrags bezahlen würde. Am Abend hing er die letzten Wochen vor seinem Verschwinden meist in der einzigen Diskothek des Ortes ab, rauchte selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich viele Joints und redete noch mehr wirres Zeug als sonst. Boone verschwand ungefähr zur selben Zeit wie Betty, ohne, dass ein Zusammenhang zwischen seinem Verschwinden und dem Mord an Betty ersichtlich gewesen war. Jedenfalls hatte es seit über zehn Jahren von Boone nie mehr ein Lebenszeichen gegeben.
Bommelmütz sah auf die Uhr. Bereits 7:00 Uhr. Höchste Zeit, den Wein zu entkorken, dachte er. Er schnitt mit dem Kellnermesser die Folie an und entfernte diese. Dann positionierte er die Spirale des Flaschenöffners vorsichtig in der Mitte des Korkens, drehte ihn langsam ein, hielt dann die Flasche mit der einen Hand und zog mit der anderen gleichmäßig den Korken aus der Flasche. Der Korken verließ die Flasche widerwillig quietschend und zum Schluss mit einem lauten Plopp. Bommelmütz begutachtete den Zapfen. Er war tiefrot gefärbt und zum Glück gänzlich schimmelfrei. Zur Sicherheit führte er den Korken an seine Nase und sog den Duft tief durch seine Nasenflügel. Das feine Aroma von Kirschen, Vanille, dunklen Brombeeren mit einem Hauch von gegerbtem Leder entfaltete sich in seinen Nasenflügeln. Bommelmütz war sehr zufrieden. Fachmännisch, probierte er einen Schluck, ehe er den Château Lafite Rothschild vorsichtig in die Dekantierkaraffe hineingleiten ließ. Er achtete streng darauf, dass das Depot in der Flasche blieb. Der Wein hatte eine herrliche dunkelrote Farbe. Ihm lachte das Herz und er freute sich, diesen eleganten Tropfen mit Sophie zu teilen. In dieser Hochstimmung schweiften seine Gedanken wiederum zu Boone. Wenn er genau darüber nachdachte, hatte er diesen mageren, blondgelockten und völlig abgedrehten Jungen sehr gemocht; den eigenartigen Jungen samt seiner Spinnereien und seiner exzentrischen Musik.
«Boone war etwas ganz Besonderes; aus dem hätte echt noch etwas werden können», kommentierte er wehmütig zu sich selbst.
Dann nahm er die Kräuterbutter aus dem Kühlschrank. «Sie entfaltet ihr Aroma am besten, wenn sie nicht ganz kalt ist», dachte Winni. Er griff zum Brotmesser und schnitt vier nicht zu dicke Scheiben Baguette ab. Die Baguette-Stange war herrlich cross und die Kruste barst beim Schneiden wie Glas. Die verführerisch duftenden Brotscheiben drapierte er feinsäuberlich in das aus Silberdraht geflochtene Brotkörbchen, das noch aus dem Haushalt seiner Großmutter stammte, und etwas altmodisch, aber sehr stilvoll wirkte. Das Körbchen hatte er vorher mit einer schneeweißen, leicht angestärkten Damast-Serviette ausgeschlagen: «Ich lege lieber später noch Brot nach. So sieht es appetitlicher aus», wieder einmal hatte er sich bei einem Selbstgespräch ertappt: «Das bleibt nicht aus, wenn man alleine lebt», sagte er diesmal ganz bewusst und laut zu sich selbst. Er platzierte das Körbchen auf dem gedeckten Tisch. So einfach sein Zuhause sonst auch war, er legte großen Wert auf die Ausstattung seiner Küche, gutes Geschirr und auf die Sanitärräume. In diesen Bereichen duldete er absolut keine Nachlässigkeit. Die Küche und die zwei Bäder des Hauses hatte er aufwändig und mit größter Sorgfalt renoviert, und auch sein Geschirr und die Kücheneinrichtung waren besonders hochwertig. Bommelmütz ließ seinen Blick prüfend über die Tafel schweifen. So wie sich sein Tisch jetzt präsentierte, war er sehr mit sich zufrieden.
Er war in Gedanken gerade wieder bei Boone, als das helle «Ding Dong» seiner Türglocke ertönte. «Ach herrje, schon so spät!» Beim Weg zur Tür kam er am Garderobenspiegel vorbei. Er warf noch schnell einen prüfenden Blick in den Spiegel, kämmte mit den Fingern die kurz geschnittenen widerspenstigen Haare nach hinten. Seine blauen Augen strahlten wie lange nicht mehr, während er schwungvoll die Tür öffnete.
Ihm stockte der Atem. Sophie sah einfach umwerfend aus.
Sie trug eine rote Bluse und einen schwarzen enganliegenden Rock, der kurz vor dem Knie endete. Dazu mit Strasssteinchen besetzte Sandalen an den gebräunten schlanken Beinen mit den makellos manikürten hochrotgelackten Fußnägeln. Bommelmütz war einen kurzen Moment wie benommen. Er suchte nach Worten und starrte sie nur an. Sie streckte ihm eine Flasche Amarone entgegen – «Zur Feier des Tages. Ist doch einer deiner Lieblingsweine oder?» Dabei funkelten ihre großen dunklen Augen mit den Strasssteinchen ihrer Sandalen um die Wette.
Bommelmütz war unfähig zu sprechen. Er schloss sie sehr viel länger, als es üblich war, in seine Arme und drückte ihr dann links und rechts einen dicken Kuss auf die Wangen. Mehr getraute er sich nicht. Ihr Parfum war jetzt ein anderes als am Morgen. Da hatte sie noch nach Lavendel gerochen. Jetzt duftete ihre Haut hingegen aufregend nach Vanille und einem Akkord aus warmen orientalischen Gewürzen:«Wenn mir gestern jemand gesagt hätte, dass du heute beim Abendessen mein Gast sein würdest, dann hätte ich denjenigen für total verrückt erklärt», strahlte er: «Schön, dass das Leben immer wieder solch freudige Überraschungen bereithält!»
Читать дальше