Weil sie ihre Chancen so unvermittelt schwinden sah, fügte sie in ihrer Not beschwörend hinzu: «Denk an dein Versprechen!»
Bommelmütz’ Leben war, seitdem er den Dienst quittiert hatte, ohne große Höhen und Tiefen verlaufen. Früher hatte er sich ein ruhiges Leben gewünscht. Aber jetzt vermisste er die Anspannung und die Bestätigung, die sein Beruf mit sich gebracht hatten. Das wurde ihm in diesem Moment besonders schmerzlich bewusst. Nicht um alles in der Welt wollte er diesen Moment missen. Er verspürte so viel Energie und Tatendrang wie seit Langem nicht mehr. Wie ein Kranker, der plötzlich genesen ist, oder eine Pflanze, die der Regen gerade noch vor dem Vertrocknen gerettet hat.
Sein Entschluss war längst gefasst. Er merkte aber, wie sehr Sophie an seiner Hilfe gelegen war und ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte. Deshalb beschloss er, sie noch ein wenig zappeln zu lassen und kostete die Situation aus.
«Ich muss mir das noch genauer durch den Kopf gehen lassen», log er, «gib mir etwas Zeit».
Im Gehen schlug er vor: «Ich könnte uns heute Abend etwas Feines kochen. Beim Essen können wir alles detailliert besprechen, was denkst du?»
Sophie überlegte kurz: «Wäre dir 20:30 Uhr recht? Dann habe ich die Kinder im Bett und kann zu dir kommen».
«Hier ist meine Karte. Ich wohne im Haus meiner Großeltern.»
Sophie studierte die Visitenkarte. Sie war aus edlem naturfarbenem Karton. Die Serifenschrift war in einem aufwändigen Prägedruck aufgebracht worden. Eine Technik und ein Material, das heutzutage teuer und selten zu finden waren. Die Karte zeugte von gutem Geschmack und war sicherlich teuer gewesen.
Weil ihm Sophie nicht sofort antwortete, fragte er unsicher nach: «Du weißt noch, wo das Haus meiner Großeltern steht?»
«Klar doch. Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast mich früher oft zu deinen Großeltern mitgenommen. Dieses Haus würde ich auch im Schlaf wiederfinden», lachte Sophie.
Während sie ihn zur Türe brachte, stopfte sie ihm noch die Akte in die Jackentasche. Sie wollte ganz sichergehen, dass er keinen Rückzieher mehr machen würde.
«Das Erfolgsrezept besteht aus einer Menge Kreativität, einer ordentlichen Portion Handwerkskunst und einer Prise Besessenheit»
Auf der Heimfahrt schossen Bommelmütz die wildesten Gedanken durch den Kopf. Inzwischen war er gedanklich längst schon mit der Lösung seines alten Falles beschäftigt.
Bildsequenzen vom Leichenfundort sowie Eindrücke und Gerüche aus der Gerichtsmedizin, all das vermischte sich jetzt in Bommelmütz’ Gehirn mit potenziellen Kochrezepten und Aromen der Zutaten für das Menü, das er für den Abend zubereiten würde. Vor seinem inneren Auge spielten sich skurrile Szenen ab wie in einem Stephen-King-Horrorfilm. Er war insgeheim wirklich froh darüber, dass niemand seine Gedanken lesen konnte. Hätte Sophie nämlich den Film sehen können, der sich in seinem Kopf-Kino abspielte, hätte sie ihn für einen auferstandenen Doktor Mabuse gehalten und ihr hätte beim Abendessen gewiss vor ihm und seinem Menü gegraust.
Nach einer schier endlosen Zeit des Müßiggangs war Bommelmütz wieder in seinem Element. Er hatte endlich wieder einen Fall zu lösen. Und noch dazu den grausamsten und gleichzeitig undurchsichtigsten Kriminalfall, mit dem er es in seiner ganzen Laufbahn jemals zu tun gehabt hatte. Außerdem hatte er Sophie wiedergefunden oder besser sie ihn, und er würde heute Abend ein phantastisches Menü für sie zubereiten und mit ihr zusammen sein.
Bommelmütz war beseelt wie seit Langem nicht mehr.
Hätte er es nur vorher gewusst, hätte er ein ganz besonderes Menü vorbereitet. Sein Boeuf Bourguignon fiel ihm als Hauptgang dazu ein. Das war ein Gedicht, und wäre ein dem Anlass angemessenes Gericht. Aber dazu brauchte er viele spezielle Zutaten und eine ganz besondere Sorte Fleisch, und er musste die Sauce zwei Tage vorher ansetzen. Also keine Chance für ein Boeuf Bourguignon.
Aber was für ein beeindruckendes Menü konnte er spontan für diesen speziellen Abend für Sophie zubereiten?
Völlig absorbiert von diesen Gedanken steuerte er den Metzgerladen an.
In seiner Stadt gab es nur einen einzigen Metzger, der ausschließlich einheimisches Fleisch von bester Qualität verarbeitete. Bommelmütz kaufte fast nur bei ihm. Die beiden Männer schätzten einander und nannten sich beim Vornamen. Bommelmütz hatte bei Eduard auf seinen speziellen Wunsch stets besondere Stücke bekommen. Aber ausgerechnet heute musste Eduard passen. Bommelmütz fragte erst nach Wachteln, dann nach extra mürben Rinderfilets, und auch mit einem feingemaserten Tafelspitz konnte Eduard heute nicht dienen. Die beiden diskutierten eingehend verschiedene Optionen und mögliche Zubereitungen. Bommelmütz verwarf aber jeden von Eduards Vorschlägen. Nach einer schier endlosen Diskussion entschuldigte sich Eduard, verschwand dann kurz nach hinten und tauchte letztlich mit einem vorzüglich gemaserten und gut abgereiften knapp kiloschweren Stück Rinderfilet sowie einem breiten Grinsen im Gesicht wieder auf: «Das hat die Frau Richterin bei mir bestellt. Aber die Alte kann sowieso nicht mit Fleisch umgehen. Die brät es zu Schuhsohlen. Schade um das gute Stück. Da gebe ich es lieber dir!» Bommelmütz war gerührt von so viel Anerkennung. «Das vergesse ich dir niemals, Eduard. Du hast mich gerettet und du hast wirklich was gut bei mir!»
«Mach mich zu deinem Trauzeugen, wenn sie «Ja» sagt. Das muss eine ganz besondere Frau sein, für die du dir so viel Mühe gibst», scherzte er mit einem Augenzwinkern. Winfried lächelte verlegen und verabschiedete sich beim Gehen mit einem breiten Grinsen und einem langen Händedruck. Eduard schaute ihm lachend nach. Er hatte seinen Freund Winfried schon lange nicht mehr so gutgelaunt und euphorisch erlebt. «Wer weiß, vielleicht liege ich ja gar nicht mal so falsch. Ich fresse einen Besen, wenn das nichts zu bedeuten hat», sagte er zu seiner Frau, die im Nebenraum Würste abgepackt und die Unterhaltung mitbekommen hatte.
Beim Feinkosthändler erstand Bommelmütz ein Pfund junge Pflückbohnen, einen Strauß aromatisches Bohnenkraut, Schnittsalat, Frühlingszwiebeln und neue Kartoffeln. Schon beim Anblick der einfachen, aber vorzüglichen Zutaten lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Heute war wirklich sein Glückstag!
Zuhause angekommen verfrachtete er das Fleisch und den Salat in den Kühlschrank. Das Gemüse und die Kartoffeln brachte er fürsorglich in den Keller. Auch wenn es nur wenige Stunden bis zum Abend waren, so wollte er die Zutaten optimal gelagert wissen. Das Haus seiner Großeltern hatte noch einen dieser riesigen, alten Original-Naturkeller mit Lehmboden, und der war zur Gemüselagerung viel besser geeignet als ein moderner Kühlschrank. In seinem reich bestückten Weinkeller suchte er mit viel Sachverstand einen fünfzehn Jahre alten Château Lafite Rothschild Grand Cru heraus, den er sich für eine ganz besondere Gelegenheit aufgespart hatte. Er trug die Flasche behutsam und ohne große Erschütterungen nach oben und deponierte sie in der Küche. Mit einem Blick auf das Thermometer versicherte er sich, dass die Raumtemperatur dem Wein zuträglich war. Er hatte bei einer anderen Gelegenheit schon eine Flasche davon getrunken und erinnerte sich noch allerbestens an den unvergleichlich eleganten Geschmack aus einer Kombination von Veilchen, Mandeln, reifen dunklen Beeren, viel Tanninen sowie einer ganz dezenten Nuance von Leder. Er war überzeugt, dass dieser Wein mit seiner vorzüglichen Säure wunderbar mit seinem Menü harmonieren würde. Sein Herz raste vor Glück. Er freute sich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen, das den Abend mit der bevorstehenden Bescherung kaum erwarten konnte. Hatte er jetzt alles? Er ging nochmals in Gedanken die Speisenfolge und Zutatenliste durch. Er hatte an alles gedacht und war perfekt vorbereitet.
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