Winni war mit sich zufrieden. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er noch etwas Zeit hatte, ehe er den Tisch decken und mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnen musste. Er setzte sich an den Rüsttisch und nahm nochmals die Akte hervor, die Sophie ihm beim Gehen zugesteckt hatte.
Sophie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Bommelmütz hatte den Köder begierig und tief geschluckt. Er steckte bereits wieder ganz tief im Fall «Betty».
Seite um Seite studierte Bommelmütz die Akte. Er betrachtete lange und intensiv die alten Fotos. Viele der Details waren ihm ins Gedächtnis gebrannt. Dennoch entdeckte er beim Studium der Akte Neues. Manchmal waren es nur Nuancen in Zeugenaussagen, manchmal waren es aber auch wichtige Details, die er seither vergessen hatte oder denen er damals keine große Bedeutung geschenkt hatte und die ihm plötzlich eigenartig vorkamen.
Ihn beschlich dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Steppenwolf nach vielen Jahren ein zweites Mal gelesen hatte. Seit der ersten Lektüre hatte er viele neue Erfahrungen gemacht und manches Erlebte oder Gesehene erschien ihm jetzt in einem völlig anderen Licht.
Der Mensch ist ein «Erfahrungstier» und interpretiert seine Umgebung nach eben diesen eigenen Erfahrungen. Bommelmütz hatte als Kriminalist stets versucht, sich von vorgefertigten Haltungen und Meinungen freizumachen. Möglichst ohne Vorurteile an einen Fall heranzugehen, darin gründete sein beruflicher Erfolg. Aber was, wenn er genau in seinem wichtigsten Fall in eben diesem Punkt versagt hatte? Der Mord an Betty hatte sich in seinem privaten Umfeld abgespielt. Was wäre, wenn er damals nur versagt hatte, weil er nicht unbefangen an die Sache herangegangen war? Was wenn er Dinge einfach hineininterpretiert hatte, anstatt ihnen wirklich auf den Grund zu gehen, und dadurch voreilige Schlüsse gezogen hatte?
Nach einem Blick auf die Uhr, schlug Bommelmütz energisch den Aktendeckel zu und verstaute das Dossier dann in seinem Schreibtisch. Er wusste jetzt genau, wie er den Fall neu angehen würde. Gleichzeitig war er schockiert von der Möglichkeit, dass er beim ersten Mal wichtige Details übersehen und Fehler gemacht haben könnte.
Mit gemischten Gefühlen widmete er sich dem Menü. Zum Glück verfügte er über die nötige Routine, sonst hätte Eduard ihm das vorzügliche Fleisch ganz umsonst anvertraut, und er selbst hätte es, anstatt der Frau Landrätin, zu Schuhsohlen gebraten.
Aber Bommelmütz hatte die Abfolge des Menüs Schritt für Schritt im Kopf und wusste zu jeder Zeit, haargenau, was zu tun war, obwohl er mit seinen Gedanken oft gänzlich vom Kochen abschweifte. Er holte das Filet rechtzeitig aus dem Kühlschrank, damit es sich der Raumtemperatur angleichen konnte, ehe er das Fleisch gleichmäßig mit einer hausgemachten Kräuter-Senf-Paste sanft massierte und danach von allen Seiten gleichmäßig scharf anbriet. Das Stück war eigentlich viel zu groß für ein Dinner zu zweit, aber das machte nichts. Auch kalt, in dünne Scheiben geschnitten würde das Fleisch köstlich schmecken. Vielleicht konnte er Sophie dazu überreden, am nächsten Tag noch einmal mit ihm zu essen? Sie könnte auch ihre Kinder mitbringen, damit er sie kennenlernen konnte. Wenn das nicht ginge, würde er ihr die Reste mit nach Hause geben. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie er selbst als Teenager pausenlos Essen in sich hineingestopft hatte, ohne zuzunehmen. Die beiden halbwüchsigen Kinder von Sophie waren da sicher nicht anders. Eigentlich beneidenswert. Heute haderte er ständig mit seinem Gewicht und musste aufpassen nicht zuzunehmen.
Für die Salatsauce verwendete er ein französisches Rezept mit einem Bouquet aus weißem Balsamico, frischem Dill, einem Hauch Knoblauch, Dijon-Senf und Basilikum, das er vor Jahren einem Sternekoch unter der Bedingung abgerungen hatte, es nur für den Eigengebrauch zu verwenden und an niemanden sonst weiterzugeben.
Bohnensäubern und Salatwaschen sind langwierige Tätigkeiten. Dafür aber extrem gut geeignet, die Gedanken kreisen zu lassen, fast wie bei einer Meditation.
Während er den Salat Blatt für Blatt wusch und von schlechten Stellen befreite und später auch noch die Bohnen zupfte, ordnete Bommelmütz in Gedanken nochmals alle Bilder und Aussagen in seinem Kopf und listete alle auch nur im Entferntesten in dem Fall beteiligten Personen auf.
Er fasste zusammen: Da war zunächst Betty. Ein Mädchen, das aussah, als wäre sie gerade aus einem Modejournal entstiegen. Auf dem Foto, das Bettys Eltern für die Suche nach ihrer Tochter abgegeben hatten, sah sie mit ihren blonden Locken, dem unschuldigen Gesicht, dem Kussmund und den strahlend grünen Augen aus wie ein Engel. Doch der äußere Eindruck täuschte. Das Mädchen war nach Aussage ihrer Klassenkameraden keineswegs ein Unschuldsengel. Viele ihrer Schulkameraden beschrieben sie als luxusverliebt und sehr berechnend. Betty war zwanzig Jahre alt, als sie verschwand und ihre Leiche dann zwei Monate später, am 15. April, tot aufgefunden wurde. Zuletzt war sie auf dem Hofgut der Hagedonks lebend gesehen worden. Oskar Hagedonk, der Sohn des Hauses, war im selben Alter wie Betty und beide waren zusammen zur Schule gegangen und locker befreundet gewesen. Oskar war in Bommelmütz’ Augen ein verwöhnter Schnösel. Bei der Befragung der Mitschüler und Lehrer hatte sich herausgestellt, dass Oskar bei seinen Mitschülern im Grunde ziemlich unbeliebt war und in der Schule eigentlich keine richtigen Freunde hatte. Seine Noten waren mittelmäßig. Oskar ließ bei jeder Gelegenheit heraushängen, dass er aus reichem Hause kam. Um anzugeben sowie um seine Mitschüler gefügig zu machen, richtete er von Zeit zu Zeit großzügige Partys aus, bei denen der Alkohol in Strömen floss und sowohl Essen als auch Getränke und gelegentlich sogar Joints für alle geladenen Gäste gratis waren. Einschließlich Annehmlichkeiten wie die Benutzung des Swimmingpools und der Sauna. Bommelmütz hatte die Aussagen von Bettys Mitschülern in der Polizeiakte nochmals genauestens studiert. Nur wenige Wochen nach dem Mord an Betty starb überraschend auch Benedikt Hagedonk, Oskars Vater. Benedikt Hagedonk war bei seinem Ableben knapp sechzig Jahre alt und schien in sehr guter körperlicher Verfassung. Er ging regelmäßig ins Fitnessstudio, joggte zweimal wöchentlich rund 10 Kilometer und sofern es seine beruflichen Aktivitäten zuließen, absolvierte er mehrmals in der Woche ein- bis zweistündige Ausritte mit seinem Araber Hengst im Gelände. An einem Samstagabend kam der gesattelte Hengst alleine in den Stall zurückgetrottet.
Benedikts Auto stand auf dem Parkplatz, aber niemand hatte den alten Hagedonk zuvor in den Stall kommen oder wegreiten gesehen. So wusste auch niemand, wie lange er schon überfällig war.
Im Stall war man davon ausgegangen, dass das Pferd gescheut und seinen Reiter abgeworfen hatte. Der Stalljunge und zwei der Pensionäre schwärmten aus, um Benedikt Hagedonk zu suchen. Man kannte ungefähr die Route, die der alte Hagedonk gewöhnlich für seine Ausritte wählte. Ein Stallbursche fand Benedikt Hagedonk schließlich auf einer Galoppbahn nur etwa 500 Meter vom Hofgut entfernt. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Er musste demnach schon vor mindestens drei bis vier Stunden verstorben sein. Aufgrund der speziellen Umstände hatten Bommelmütz und Vidal auf einer Obduktion bestanden. Der Gerichtsmediziner hatte bei der Untersuchung dann aber nichts Auffälliges feststellen können und bescheinigte «Tod infolge eines plötzlichen Herzstillstands ohne äußere Einwirkung» auf dem Totenschein. Doch Bommelmütz hatte irgendwie ein ungutes Bauchgefühl bei der Sache gehabt, und Vidal war es genauso gegangen. Sein Bauchgefühl ließ Bommelmütz ganz selten im Stich und jedes Mal, wenn er die Akte durchging, fühlte Bommelmütz auch heute immer noch Zweifel aufsteigen, ob der alte Hagedonk damals wirklich eines natürlichen Todes gestorben war?
Читать дальше