1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 »Besten Dank, Jean-Pierre Lapierre, und alles Gute nach Tripolis.«
Das eingeblendete Fenster mit dem Auslandskorrespondenten verschwand.
Dann folgte irgendetwas über falsch ernährte Schweine aus Deutschland und die Drohung der Holländer, die Importe deutschen Schweinefleischs zu stoppen. Eine Stellungnahme der EU aus Brüssel wurde in den kommenden Tagen erwartet.
Nach ein paar belanglosen Nachrichten aus Frankreich folgte ein weiterer Beitrag, der Jean-Baptistes Aufmerksamkeit erregte.
»In der Demokratischen Republik Kongo sind Anfang der Woche viele Menschen bei einem Überfall auf ein abgelegenes Dorf ums Leben gekommen. Nach ersten Angaben gibt es mindestens vierundvierzig Opfer. Details zu dem Überfall sind bisher nicht bekannt, ein Kommentar der vor Ort stationierten Mitarbeiter der Vereinten Nationen liegt zu diesem Zeitpunkt nicht vor.«
Den Nachrichtensprecher schien diese Nachricht aus dem schwarzen Herzen Afrikas nicht weiter zu interessieren, und er widmete sich dem nächsten Thema, irgendetwas zur bevorstehenden Hochzeit des britischen Prinzen William.
Doch Jean-Baptiste hörte nicht mehr hin. Normalerweise wäre es ihm genauso wie dem Nachrichtensprecher gegangen. Er wusste gerade soeben, dass die Demokratische Republik Kongo ein Teil des früheren Zaire war und sich im Herzen dieses Katastrophenkontinents Afrika befand. Das war weit weg und vor allen Dingen nichts, mit dem Jean-Baptiste das Geringste zu tun haben wollte. In seinem Bild von Schwarzafrika war die Hälfte der Menschen mit HIV infiziert, fast alle nagten am Hungertuch und produzierten trotzdem massenweise neue Kinder, die nicht ernährt werden konnten. Diese Probleme schien man zu regeln, indem man allen Kindern mit Erreichen der Geschlechtsreife aussortierte, aber noch voll funktionstüchtige, russische Maschinengewehre gab, mit denen auch fröhlich in der Gegend herumgeschossen wurde. Die wenigen Reichen waren richtig reich, wovon sich korrupte Politiker oft ein Scheibchen abzuschneiden wussten – aber auch das war offenbar kein Garant für Glück, denn man hörte doch ständig von irgendwelchen Putschen und Ermordungen von politischen Gestalten. Kurz: Man hatte in Jean-Baptistes Augen besser nichts mit Schwarzafrika zu tun. Seine Meinung war allerdings heute herausgefordert worden – von einer toten Frau schwarzafrikanischer Herkunft, von der eine mysteriöse Faszination ausging.
Jean-Baptiste hörte bei den Börsennachrichten nicht mehr zu, denn er besaß keine Aktien, und schaltete den Fernseher aus, bevor man ihm den Wetterbericht präsentiert hatte.
Zahlreiche Tote bei einem Überfall in der Demokratischen Republik Kongo. Eine Tote aus Burundi.
Während Jean-Baptiste die DR Kongo geografisch einigermaßen einzuordnen wusste, hatte er keine Ahnung, wo Burundi genau lag. Er schaltete den Computer ein. Als Windows hochgefahren war, startete Jean-Baptiste Google Earth, ein Programm, das Claire ihm erst vor ein paar Wochen gezeigt hatte. In das Suchfeld tippte er »Burundi« und drückte Enter . Sofort zoomte das Blickfeld von seiner Standardansicht irgendwo hoch über Paris aus und flog ziemlich genau nach Süden. Als das Bild fertig geladen war, blickte Jean-Baptiste auf einen Flickenteppich von Satellitenbildern unterschiedlicher Güte. Burundi schien in den Augen von Google keine besondere Bedeutung zu haben – was man den Herrschaften von Google eigentlich nicht verübeln konnte, denn es handelte sich, wie Jean-Baptiste jetzt erkannte, um ein verhältnismäßig kleines Land westlich von Tansania, südlich von Ruanda und – was für ein interessanter Zufall – östlich der Demokratischen Republik Kongo. Die Hauptstadt schien eine Stadt namens Bujumbura zu sein, von deren Existenz Jean-Baptiste hiermit zum ersten Mal Kenntnis nahm.
Überrascht von seinem plötzlichen Wissensdurst surfte Jean-Baptiste auf Wikipedia und belas sich zu Burundi und folgte einer Handvoll Links, um seine Lektüre zu vertiefen.
Es war immer noch nicht richtig spät, aber er empfand eine zunehmende Müdigkeit. Also beschloss er, zeitig schlafen zu gehen. Und für den nächsten Morgen nahm er sich vor, zum ersten Mal seit zwei Jahren seine Laufschuhe anzuziehen und joggen zu gehen. Er würde vermutlich nicht lange durchhalten, was umso deutlicher auf die dringende Notwendigkeit körperlicher Betätigung hinwies. Weil er sich selbst nicht traute, stellte er seine alten Laufschuhe bereit und legte Shorts sowie ein T-Shirt dazu. Letzteres bewies, dass Jean-Baptiste im Jahre 1998 an den 20 km de Paris , einem alljährlichen Pariser Stadtlauf, teilgenommen hatte, wenn auch das T-Shirt nicht verriet, ob er sie bis zum Ende, und wenn ja, in welcher Zeit, gelaufen war.
Es wird ein ganz großartiges Wochenende werden, nahm Jean-Baptiste sich vor. Von jetzt an wird jeder einzelne Tag großartig! Und diesen verfluchten Goldberg kriege ich, selbst wenn er sich im hintersten Winkel der Erde versteckt hat!
Kein besonders realistisches Ziel? Gewiss nicht. Aber das hätte Forrest Gump nicht gestört. Es galt, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Und wer konnte es schon wissen? Vielleicht hatte er ja Glück.
Montag, 16. Mai 2011. Tag X-12.
Rahul Milad Khalili.
Der Flug nach Kabul startete vom Neu-Delhi International Airport mit knapp einer Stunde Verspätung. Als keine Anschnallpflicht mehr bestand, verließ der Passagier, der bis dahin reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Platz 34E gesessen hatte, seinen Sitzplatz und begab sich mit einer leichten baumwollenen Tasche, die sein einziges Handgepäck darstellte, auf das WC. Er entledigte sich des nach westlichem Stil geschnittenen hellblauen Baumwollhemdes, seines weißen T-Shirts und seiner grauen Baumwollhose. Einen Moment lang stand Rahul Milad Khalili nur mit einer Unterhose bekleidet vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken und starrte sein Spiegelbild an. Der dichte dunkle Bart verbarg einen Großteil seines Gesichts, sodass die tiefen Falten seiner Haut nur um die Augen sichtbar waren. Dann nahm er eine sauber zusammengerollte weite weiße Baumwollhose aus seiner Tasche und zog sie an. Das Gleiche tat er mit einem langen weißen Baumwollhemd, das ihm bis über die Knie herunterhing. Von den drei Knöpfen am Hals schloss er zwei. Er hatte noch nicht entschieden, ob er den Turban tragen würde, daher ließ er sein fünf Meter langes Turbantuch vorerst in der Tasche, in der er auch seine westliche Kleidung verstaute. Nach einem letzten Blick in den Spiegel verließ er das Flugzeug-WC und kehrte zu seinem Sitzplatz zurück. Den Rest des zweistündigen Fluges verbrachte er unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Niemand hätte sagen können, ob er schlief oder nicht.
Nach der Landung in Kabul entschied sich Rahul Milad Khalili gegen den Turban. Bei der Passkontrolle erlebte er einen kurzen bangen Moment. Der Beamte zögerte und sein Blick wanderte mehrfach zwischen dem Gesicht vor ihm und dem Pass in seinen Händen hin und her. Rahul Milad Khalili wusste, wieso. Doch dann händigte der Beamte ihm seinen Pass wieder aus und winkte ihn durch. Rahul Milad Khalili atmete durch. Er befand sich auf afghanischem Boden. Der Anfang war geschafft. Der Anfang vom Ende.
Vor dem Flughafen schenkte er den ihre Dienste anbietenden Taxifahrern keinerlei Beachtung, sondern orientierte sich direkt zu einem ebenfalls bärtigen traditionell gekleideten Mann. Als der Mann ihn erblickte, begannen seine Augen zu leuchten, und er machte ein paar Schritte auf Rahul Milad Khalili zu. Als sie sich erreichten, hielten sie einen winzigen Augenblick inne, während dem sie sich betrachteten.
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