«Natürlich, das machen wir gerne. Wir haben uns gerade eben gefragt, was wir noch tun könnten, uns ist schrecklich langweilig», scherzte Phil.
Die beiden machten sich mit Bens Autoschlüssel aus dem Staub.
«Taonga ist ein Maori, nicht wahr?», fragte Ben interessiert.
Maori waren die ersten Einwanderer, die Neuseeland besiedelt hatten, sie stammten ursprünglich aus Polynesien.
«Ja, genau», antwortete Julia. «Er wohnt in dem kleinen Häuschen auf unserem Grundstück und arbeitet hier bei uns. Er ist uns eine sehr große Hilfe. Er kann einfach fast alles. Er ist kräftig wie ein Bär und handwerklich äußerst geschickt», lobte Julia den Maori. «Er ist ein langjähriger guter Freund der Familie und liebt unsere Kinder», fügte sie strahlend hinzu. Dann sah sie Ben ernst an: «Du siehst müde aus, Ben!», und an Stella gewandt, sagte sie: «Bitte zeig ihm sein Bett. Kannst du es auch gleich beziehen? Es liegt, glaube ich, noch einige Wäsche darauf. Du musst entschuldigen, Ben, bei uns geht es etwas chaotisch zu.»
Ben war das völlig egal. Im Gegenteil, es gefiel ihm, dass in diesem Haus deutlich zu sehen war, dass hier eine Familie lebte. Bei ihm zu Hause war immer alles fein säuberlich aufgeräumt und seine Mutter putzte hinter allen her.
Ben musste Stella beim Herrichten des Betts zuschauen, sie hatte sich geweigert, Hilfe von ihm anzunehmen. Er saß also untätig auf einem Stuhl und beobachtete, wie das Mädchen geschickt das Bett bezog. Ihre langen Haare bewegten sich bei jeder Bewegung wellenartig hin und her. Sie trug ungewöhnliche Kleider: bunte Pluderhosen, fast etwas alternativ, dazu ein enges, knallrotes Top. Sie hatte eine super Figur, ob sie sich dessen bewusst war?
Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr abwenden und merkte, wie sein Herz plötzlich Kapriolen schlug. Was ging da in ihm vor? Er hatte sich geschworen, dass er sich mindestens einige Jahre nicht mehr verlieben wollte, wenn überhaupt noch einmal. Nach allem, was er mit Naemi, seiner Ex-Freundin erlebt hatte.
Ein ganzes Jahr waren sie zusammen gewesen. Er hatte sie wirklich geliebt. Doch dann, vor drei Monaten, hatte sie ihn von einem Tag auf den anderen verlassen, um mit seinem besten Freund anzubandeln. Am schlimmsten war es für ihn gewesen, dass sie alle drei in die gleiche Kirche gingen. Das Ganze hatte ihn nicht nur unendlich enttäuscht und verletzt, sondern auch seinen Glauben ins Wanken gebracht.
Naemi hatte dauernd von Gott und der Bibel gesprochen und hatte sich einen Prediger nach dem anderen zu diesem und jenem christlichen Thema angehört. Ben konnte einfach nicht verstehen, dass sie ihm das angetan hatte. So ein Verhalten passte für ihn nicht zu einem christlichen Leben. Warum soll ich Christ sein , hatte er sich gefragt, Christen sind keinen Deut besser als alle anderen. Er ging dann nicht mehr zu den Gottesdiensten, was wiederum den Vorstellungen seines Vaters widersprach. Er solle sich nicht so anstellen, hatte er nur dazu zu sagen gehabt.
«Du bist so schweigsam, hast du noch starke Kopfschmerzen?» Stella stand vor ihm und schaute ihn ernst an.
«Äh ... ja, schon, es hämmert noch immer ziemlich in meinem Kopf.»
Sie wandte sich ab und sagte beim Hinausgehen: «Ich frage Julia nach einem Schmerzmittel, leg dich nur hin!»
Ben überlegte, ob er sich mitsamt den Kleidern in das frische Bett legen sollte, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Er klopfte sich den Staub ein wenig aus der Hose und setzte sich zögernd auf die Bettkante.
Da kam Stella zurück, ein Glas Wasser in der einen und eine Tablette in der anderen Hand. Sie hielt ihm beides hin. «Julia hat mir für dich eine Schmerztablette mitgegeben, sie ist gerade noch mit den Kids beschäftigt.»
Sie lächelte ihm aufmunternd zu und er schluckte brav das Medikament.
«Ich lasse dich jetzt in Ruhe.» Stella zog unaufgefordert die Vorhänge zu. «Julia hat gesagt, sie kommt später noch nach dir schauen und du sollst dich melden, falls du ein Problem hast, okay?»
Er nickte dankbar und sie verließ das Zimmer.
Ein wenig später wollte sie ihm die Tasche mit seinen Sachen aus dem Auto bringen. Sie klopfte an und trat, als er sich nicht meldete, vorsichtig ein. Er lag in seinen Kleidern auf dem Bett und schien bereits tief und fest zu schlafen.
Leise stellte sie die Tasche neben das Bett, blieb noch einen kurzen Moment im Zimmer stehen und schaute Ben beim Schlafen zu. Er war verschwitzt, die dunklen Locken klebten ihm an der Schläfe. Am liebsten hätte Stella sie ihm aus dem Gesicht gestrichen, doch im nächsten Augenblick erschrak sie über diesen Gedanken. Schnell schlich sie aus dem Zimmer.
Kapitel 2 : Ich vermisse dich! .
Der Wecker schrillte, nur langsam erwachte Grace aus dem Tiefschlaf. Sie stöhnte und vergewisserte sich schlaftrunken, ob es tatsächlich schon Morgen war. Fünf Uhr, eine Unzeit zum Aufstehen , dachte sie.
Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und schlich zum Babybettchen hinüber. Emily schlief friedlich, nichts deutete darauf hin, dass sie ihre Mutter die halbe Nacht mit ihrem Geschrei auf Trab gehalten hatte. Zärtlich strich Grace ihrer kleinen Tochter über die rundlichen Bäckchen und schüttelte den Kopf. «Du süßes kleines Monster, wenn du nur die ganze Nacht so brav schlafen würdest.»
Müde gähnte sie und streckte sich. Dann zog sie sich an und schlurfte in die Wohnküche, wo ihre Eltern Liz und Mahora bereits beim Frühstück waren.
«Hat sie dich wieder wachgehalten?», fragte ihr Vater und grinste so breit über sein rundes, dunkelhäutiges Maori-Gesicht, dass seine weißen Zähne aufblitzten.
Grace nickte nur müde.
«Du warst genauso in diesem Alter, du wolltest nachts einfach nicht schlafen.» Liz sah ihre Tochter mitleidig an. «Ich schaue nachher nach der Kleinen. Du kannst dich dann am Mittag noch ein bisschen hinlegen nach der Arbeit.»
Grace nickte dankbar. Es hatte Vorteile, dass sie im Elternhaus wohnte, auch wenn sie es sich manchmal anders wünschte. Immerhin bewohnte sie mit ihrem Mann Marco und dem Baby eine eigene kleine Wohnung. Aber sie lebten doch unter demselben Dach mit ihren Eltern, was manchmal zu Konflikten führte.
Aber wenn sie am Mittag müde von der Arbeit auf der elterlichen Schaffarm zurück ins Haus kam, wartete immer ein kräftiges, nahrhaftes Mittagessen auf sie. Ihre Mutter war bestimmt die beste Köchin Neuseelands. Und Liz würde sich nach dem Essen weiter um Emily kümmern, damit Grace sich noch ein Stündchen hinlegen konnte. Liz hatte Rückenprobleme und wurde deshalb möglichst von der körperlich sehr anstrengenden Arbeit auf der Farm herausgehalten.
Grace schnappte sich noch ein Stück Toast und schlürfte den schwarzen Kaffee. Ihr Vater zog sich bereits den breitkrempigen Hut ins Gesicht und schlüpfte in die Gummistiefel.
«Ein Wetter ist das wieder!», schimpfte er. «Wir haben Ende Januar, Hochsommer, aber es regnet bei knapp acht Grad! Zieh dich bloß warm an, Grace!»
Sie verdrehte die Augen. Es war wirklich unwirtlich draußen, die ganze Woche schon. Aber das kam einfach vor auf der neuseeländischen Südinsel. Das konnte sich auch schnell wieder ändern.
Etwas später verrichtete sie, wasserdicht und warm verpackt, ihre Arbeit im Stall und auf der Weide. Es gab viel zu tun auf der elterlichen Farm mit rund 1000 Schafen. Zum Glück hatten sie Hilfe von mehreren fleißigen Angestellten, unter ihnen auch Menschen aus aller Herren Länder, die einen Farmstay oder Work and Travel absolvierten. Sie arbeiteten hier einige Monate und verdienten sich Geld, um danach das Land zu bereisen.
Sie hatten auf diese Weise viele schöne Bekanntschaften gemacht. So hatte Grace sogar ihren Schweizer Mann kennen gelernt. Marco war vor fünf Jahren für einen halbjährigen Farmstay zu ihnen auf die Farm gekommen. Doch dann war er länger geblieben, denn sie hatten sich schnell verliebt, und bald war klar gewesen, dass er in Neuseeland und bei ihr bleiben würde.
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