Er besaß mit seinen 20 Jahren erst seit einigen Monaten den Führerschein, den hatte er sich mit seinem Lohn von der Zimmerei geleistet. Er war es überhaupt nicht gewohnt, in einer Großstadt zu fahren, und schon gar nicht auf der linken Straßenseite auf mehrspurigen Autobahnen. Er war sehr erleichtert, als er dieses erste Abenteuer geschafft hatte.
Bei der nächstbesten Gelegenheit fuhr er außerhalb der Stadt an den Straßenrand und stieg aus seinem ersten eigenen Auto. Überwältigt ließ er seinen Blick über die grasbewachsenen Hügel und den Sandstrand schweifen, der hier vulkanig schwarz war. Beachtlich große Wellen ergossen sich in regelmäßigen Abständen tosend über den grobkörnigen Sand. Wilde Schönheit!
Ben schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und den Wind, der ihm einen herrlich fremden Geruch von Meer und Abenteuer entgegenblies. Dann ließ er sich wieder in den Autositz fallen und studierte seinen Reiseführer, um herauszufinden, wo er ungefähr hinfahren wollte. Er entschied sich, zuerst einmal ganz in den Norden der Nordinsel zu reisen.
Neuseeland bestand aus zwei Hauptinseln und mehreren kleineren Inseln. Das Klima in Neuseeland zerfiel in zwei Zonen. Der Norden der Nordinsel lag in den Subtropen. Hier herrschten milde Winter und relativ warme Sommer. Der Südteil der Nordinsel sowie die gesamte Südinsel befanden sich in der gemäßigten Klimazone, wobei die Temperaturen nach Süden hin immer weiter abnahmen.
Ben wusste noch nicht, wo er die nächste Nacht verbringen wollte. Er fuhr aufs Geratewohl nordwärts und staunte über die üppige Natur. Er ging die Reise gemütlich an und gönnte sich immer wieder Stopps an Orten, die ihm gefielen.
Nach knapp dreistündiger Fahrt entschied er sich, dass er als Nächstes einen Strand ansteuern wollte, der im Reiseführer unter dem Titel Tips from locals empfohlen wurde. Anschließend würde er sich langsam eine Unterkunft suchen müssen. Er war müde vom Fahren in diesem völlig fremden Land mit Linksverkehr, auch der Jetlag machte ihm mehr zu schaffen, als er gedacht hatte.
Vom Parkplatz aus musste man laut Reiseführer eine gute halbe Stunde über Steine und Felsen klettern, weshalb der Strand meist menschenleer war. Genau das wünschte sich Ben jetzt – einen unberührten, einsamen Strand. Er fand den Parkplatz sofort und war froh, dass kein anderes Auto dort parkte. So gehörte ihm der Strand für heute hoffentlich alleine.
In der Schweiz war Ben oft in den Bergen unterwegs gewesen, er liebte das Klettern und Wandern, am liebsten abseits der Wege. Nun schlüpfte er gespannt in seine Trekkingschuhe und machte sich auf den Weg.
Unerwarteterweise kam er jedoch bald ins Schwitzen. Er spürte deutlich, dass sein Körper die lange Reise, den Schlafmangel und die Zeitumstellung noch nicht ganz verarbeitet hatte. Zudem war er vom Schweizer Winter in den Neuseeländer Sommer gereist, der Temperaturunterschied war gewaltig. Erst vor wenigen Tagen war er bei Minustemperaturen auf einer Skitour mit Freunden unterwegs gewesen. Nun kletterte er bei 25 Grad über neuseeländische Felsen. Es ärgerte ihn, dass sein Körper sich dagegen zu wehren schien. Er war doch keine Memme, es konnte einfach nicht sein, dass er nach ein paar Felsblöcken schlappmachte! Er biss sich auf die Lippen und riss sich zusammen, als müsste er einen Wettlauf gewinnen.
Nach etwa 20 Minuten war er ziemlich außer Atem und stolperte einige Male. Doch anstatt sich kurz auszuruhen, trieb er sich selbst noch heftiger an. Plötzlich rutschte er auf einer sandbedeckten Felsplatte aus. Er versuchte sich noch abzufangen, fand jedoch keinen Halt und knallte hart mit dem Hinterkopf auf einen vorstehenden Stein. Er fühlte einen dumpfen Schmerz, bevor er für kurze Zeit das Bewusstsein verlor.
Stella war den ganzen Tag von morgens früh an alleine für die vier Kinder ihrer Tante Julia zuständig gewesen. Die zwei Mädchen, die neunjährige Leah sowie die siebenjährige Chloe, und die Jungen Liam, drei, und Josh, ein Jahr alt, hatten sie ziemlich auf Trab gehalten.
Julia war mit ihrem Mann Phil auf einem Handwerkermarkt, wo sie Julias selbst hergestellte Deko-Objekte verkauften.
Stella hatte mit den Kindern gespielt, für sie gekocht, Windeln gewechselt und Tränen getrocknet.
Sie war nun einen Monat hier im Norden Neuseelands, ein Stück außerhalb des Dörfchens Paihia. Hier lebte ihre Schweizer Tante, die jüngste Schwester ihrer Mutter, seit ein paar Jahren mit ihrem neuseeländischen Mann Phil. Stella war hergekommen, um ihre Tante und ihre Familie zu unterstützen und um ihr Englisch zu verbessern. Phil war Englischlehrer und konnte ihr ganz nach ihren Bedürfnissen Privatunterricht geben. Julia, ihrerseits war froh über die professionelle Kinderbetreuung. Stella hatte ihre Ausbildung als Kinderbetreuerin in einer Kindertagesstätte vor einem halben Jahr abgeschlossen und kümmerte sich mit viel Liebe um ihre Cousins und Cousinen.
Es hatte sie einigen Mut gekostet, alleine die lange Reise in das ihr völlig unbekannte Land am anderen Ende der Welt zu wagen. Zum Glück waren da ihre Tante Julia und die ganze Familie Harris, die sie herzlich willkommen geheißen und ihr das Einleben erleichtert hatten.
Stella hatte einige schwierige Erfahrungen an ihrer ersten Arbeitsstelle hinter sich. Sie war deshalb froh, das alles weit hinter sich zu lassen. Aber sie vermisste ihre Familie in der Schweiz sehr. Sie hatte eine sehr gute Beziehung zu ihren Eltern und ihren vier jüngeren Schwestern. Speziell zu ihrem Vater hatte sie schon als kleines Mädchen eine ganz besondere und enge Verbindung gehabt. In ihrer Großfamilie waren immer alle für einander da gewesen.
Nun war sie mit ihren 19 Jahren so etwas wie eine zweite Mutter für Leah, Chloe, Liam und Josh geworden. Die Kinder liebten Stella und Stella liebte sie.
Als Julia nach einem erfolgreichen Verkaufstag gegen vier Uhr vom Markt zurückkam, fand sie, dass ihre Nichte ein bisschen Ruhe verdient hätte. «Etwa zehn Autominuten von hier gibt es einen Weg zu einem wunderschönen Strand, den du noch nicht kennst. Ich kann dich zum Parkplatz fahren, von da aus erreichst du den Strand in etwa einer halben Stunde. Es ist eine kleine Kletterpartie, aber dafür wirst du reich belohnt mit einem traumhaften Strand und türkisfarbenem Meer.»
Der Vorschlag ihrer Tante war ganz in Stellas Sinn. Da Stella noch nicht Auto fahren konnte, chauffierte sie ihre Tante bis zum Parkplatz, wo bereits ein altes Auto stand.
«Schade, da bin ich wohl doch nicht ganz alleine», stellte Stella ein wenig enttäuscht fest. Trotzdem machte sie sich auf den Weg über die Felsen.
Sie hatte mit Julia vereinbart, dass sie sich per Smartphone melden würde, wenn sie abgeholt werden wollte. Stella hatte es bisher nicht für nötig gehalten, ihren geringen Lohn für Fahrstunden auszugeben. Die öffentlichen Verkehrsmittel in der Schweiz waren ja ziemlich gut ausgebaut. Doch hier in Neuseeland war es anders. Hier war man auf ein Auto angewiesen, wenn man innerhalb einer gewissen Zeit an einem bestimmten Ort sein wollte.
Stella kletterte über die Steine und Felsen und staunte einmal mehr über die üppige Vegetation am Wegrand. Nach einer Weile erblickte sie von Weitem eine Person, die ebenfalls auf dem Weg zum versteckten Strand zu sein schien. Dieser Person gehörte das alte Auto auf dem Parkplatz, vermutete Stella. Plötzlich verschwand der Mann oder die Frau, Stella konnte es aus der Ferne nicht erkennen, hinter einem großen Felsen. Als sie ihn kurze Zeit später erreicht hatte und darüber geklettert war, erschrak sie sehr: Sie sah einen jungen Mann, der reglos am Boden lag.
Mit schlotternden Knien rannte sie zu ihm, berührte ihn am Arm und sprach ihn in ihrem besten Englisch an. Tatsächlich reagierte der junge Mann, öffnete die Augen und hielt sich die Hand stöhnend an den Hinterkopf. Er hatte eine Platzwunde.
Читать дальше