«Geht es dir gut? Du hast eine Wunde am Kopf, es blutet ziemlich stark!»
Ben lächelte trotz seiner Verletzung und antwortete auf Schweizerdeutsch: «Ich glaube es nicht! Ich bin kaum einen Tag in Neuseeland und schon treffe ich eine Schweizerin. Aber die Art des Kennenlernens ist mir etwas peinlich!»
Stella war verdattert. War ihr Englisch so mies, dass man bereits nach einem Satz hörte, woher sie kam? «Ähm, du kommst also auch aus der Schweiz», stotterte Stella. So viel war nun wohl klar. «Ich muss wohl mein Englisch noch etwas verbessern.»
Ben hatte überhaupt nicht im Sinn gehabt, das Mädchen irgendwie zu beleidigen. «Nein, nein, dein Englisch ist super, aber ich konnte einen sympathischen helvetischen Akzent heraushören.»
Stella musste lachen. «Und du sprichst perfekt Englisch?»
«Perfekt? Nein! Aber ich war während meiner Zeit am Gymnasium zu einem halbjährigen Austauschaufenthalt in England. Mein Englisch ist deshalb very, very british , ich hoffe, ich falle hier nicht allzu sehr damit auf.»
Stella musste lachen. Der Junge war ihr sympathisch. Er schien witzig zu sein und er sah ziemlich gut aus. Er hatte mandelförmige dunkelbraune Augen, stark ausgeprägte dunkle Augenbrauen und sein lockiges, wildes Haar hatte genau dieselbe Farbe. Er schien eine Weile nicht mehr beim Frisör gewesen zu sein, doch das etwas längere Haar stand ihm gut. Er war nicht besonders groß, aber muskulös.
Stella wollte ihn eigentlich nicht anstarren und fragte schnell:
«Kann ich dir irgendwie aus deiner misslichen Situation helfen?» Ben verdrehte die Augen. «Höre ich da einen sarkastischen Unterton heraus? Eigentlich müsste es umgekehrt sein: Prinz rettet Prinzessin, oder?»
Stella lachte: «Ja, lieber Prinz, die Zeiten scheinen sich geändert zu haben!»
Ben versuchte sich aufzurappeln. Sein Kopf schmerzte ziemlich, doch er wollte sich möglichst nichts anmerken lassen.
Stella öffnete ihren Rucksack. Zum Glück hatte sie darin noch etwas Verbandsmaterial, weil sie es für die Kinder ihrer Tante schon öfter gebraucht hatte. «Ich werde dich erst einmal verarzten. Meinst du, du schaffst es danach zurück zum Parkplatz?» Sie begann die Wunde zu säubern.
Ben spielte den Helden und ließ sich nicht anmerken, wie sehr es brannte. «Zum Glück sind meine Füße noch in Ordnung, den Kopf brauche ich ja nicht zum Gehen», scherzte er.
Stella lächelte. Sie legte Ben so gut es ging einen Verband an, das war gar nicht so einfach mit den lockigen Haaren.
Ben versuchte inzwischen, sich das fremde Mädchen, das sich an seinem Kopf zu schaffen machte, etwas genauer anzusehen. Ihr dunkelblondes, leicht gewelltes Haar reichte ihr bis auf den Rücken und glänzte im Sonnenlicht. Sie hatte ein hübsches ovales Gesicht mit einer süßen Stupsnase und stahlblaue Augen. Sie gefiel ihm sehr gut. «Wie heißt du eigentlich, Krankenschwester?»
Sie hielt einen Moment inne und wandte sich ihm zu. «Stella und du?»
«Ich bin Ben.»
Stella schaute ihn erstaunt an: «Ben? Das klingt irgendwie nicht schweizerisch.»
Ben erwiderte: «Eigentlich heiße ich Benjamin.» Er winkte verächtlich mit der Hand ab. «Aber ich hasse diesen Namen, sag ja nie Benjamin zu mir, okay?»
Stella grinste. «Alles klar, Ben, kann ich irgendwie verstehen!»
Der Verband hielt nun einigermaßen und Ben versuchte aufzustehen. Sein Schädel hämmerte, aber er wollte vor Stella nicht als Schwächling dastehen. Er schaffte es, sich aufzurichten und trotz des Schwindels, der ihn überkam, einige Schritte zu machen.
Stella hatte ihr Smartphone aus dem Rucksack geklaubt. «Ich kann meine Tante anrufen, dann kommt sie uns holen. Du solltest heute wohl nicht mehr selber Auto fahren. Wo musst du überhaupt hin?»
«Wenn ich das wüsste», antwortete Ben. Er erzählte ihr kurz, dass er noch keine konkreten Pläne hatte.
Stella überlegte einen Moment. Sollte sie ihn auf den Campingplatz von Julia und ihrem Mann Phil einladen? Phil hatte ein riesiges Grundstück am Meer geerbt, auf dem unter anderem das Haus stand, in dem sie wohnten. Sie waren mit verschiedenen Projekten beschäftigt, die sie auf dem Landstück umsetzen wollten. Das eine war ein Campingplatz. Eine Cabin , ein kleines, gemütliches Holzhäuschen, war bereits fertiggestellt. Die Idee, einen fremden Jungen einzuladen, kam ihr jedoch etwas gewagt vor, sie kannte Ben ja überhaupt nicht.
Sie rief Julia an, die versprach, so schnell wie möglich zu kommen.
«Ben, meine Tante Julia will sich gleich deine Wunde ansehen, sie ist nämlich wirklich Krankenschwester. Sie hat auch gesagt, dass du auf keinen Fall auf die Idee kommen sollst, dich heute noch hinters Steuer zu setzen.»
Ben nickte brav. Langsam und vorsichtig machten sie sich auf den Rückweg zum Parkplatz. Bens Kopf dröhnte beim Gehen im Takt seines Pulses.
Beim Parkplatz mussten sie nicht lange auf Julia warten. Ihr Auto kurvte zügig auf den Kiesplatz und sie stieg freundlich lächelnd aus.
Sofort ging sie auf Ben zu und fragte: «Du bist also Ben? Und du bist Schweizer?»
Er nickte.
«Zum Glück hat dich Stella gefunden. Ich werde mir das mal kurz ansehen, okay?»
Sie ließ Ben auf einen großen Stein sitzen und sah sich seine Verletzung an. Die Wunde musste nicht genäht werden, sie befürchtete aber, dass sich Ben vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung geholt haben könnte. «Du kommst auf jeden Fall zuerst einmal zu uns,
okay? Dann sehen wir weiter.»
Wieder nickte Ben. «Wenn das keine Umstände macht», stotterte er.
Julia lachte nur. «Umstände? Das ist überhaupt kein Problem!» Julia war Ben auf Anhieb sympathisch. Sie sah Stella unglaublich ähnlich, nur dass sie rund 20 Jahre älter war.
Kurze Zeit später rollte das Auto auf den Campingplatz und die drei stiegen aus. Auf der Fahrt hatte Julia kurzerhand vorgeschlagen, dass Ben die Nacht bei ihnen verbringen sollte. Sie hatte ihm das Gästezimmer im Haus angeboten.
«So kann ich dich etwas beobachten, und falls es dir in der Nacht nicht gut gehen sollte, wärst du nicht alleine und ich könnte reagieren. Du kannst auch gerne länger bleiben, wir schauen einfach, okay?»
Ben war einverstanden. Normalerweise hätte er ihre Art als Bevormundung empfunden. Doch nun war er froh, in diesem Zustand in einem völlig fremden Land nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Er konnte Stellas Tante mit ihrer fröhlichen und lockeren Art gut leiden und Stella sowieso.
Nur eine Frage plagte ihn: «Was wird jetzt aus meinem Auto?»
«Keine Sorge Ben, darum kümmern sich mein Mann Phil und unser Freund Taonga bestimmt», meinte Julia.
«Oh, das ist wirklich sehr nett. Das ist mir irgendwie gar nicht recht, dass ihr wegen mir so viel Aufwand habt.»
«Aufwand? Absolut kein Problem, wir helfen gerne!», antwortete Julia. «Du solltest dich nun aber unbedingt etwas ausruhen. Stella zeigt dir das Zimmer.»
Gerade in diesem Moment traten Phil und Taonga mit den zwei jüngeren Kindern, Liam und Josh, aus dem Haus und kamen neugierig auf sie zu. Phil war hellhäutig und dunkelblond, Taonga hatte eine dunklere Hautfarbe und kohlschwarzes Haar. Er war sehr kräftig gebaut und sein ärmelloses Shirt gab den Blick auf eine typische Maori-Tätowierung frei, die über seine linke Schulter bis fast zum
Ellbogen verlief.
Julia stellte Ben die Männer vor. «Das ist mein Mann Phil Harris und das ist Taonga Anaru. Taonga ist ein guter Freund und wohnt hier bei uns.»
Taonga grinste breit über sein rundes, dunkelhäutiges Gesicht. Er hatte kein Wort Schweizerdeutsch verstanden. Auch Julias Mann Phil verstand nur ein wenig der für ihn seltsamen Sprache. Deshalb wechselte Julia nun lachend ins Englische und erzählte den beiden, was geschehen war. Sie fragte die Männer, ob sie Bens Auto holen könnten.
Читать дальше