1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 «Hast du ein schlechtes Gewissen?», witzelte Ben. Als er ihr erschrockenes Gesicht sah, entschuldigte er sich. «Habe ich dich so erschreckt? Das wollte ich echt nicht, sorry!»
Er begutachtete die Zeichnungen und war überrascht. «Das ist unglaublich. Du bist eine Künstlerin, Stella!» Dann grinste er geschmeichelt. «Das bin ja ich. Immer und immer wieder ich.»
Stella war die Situation peinlich. Diese Skizzen hatte sie eigentlich nur für sich selbst gezeichnet, sie wollte nicht, dass Ben sie sah.
«Du nähst deine Kleidung selbst, du zeichnest hervorragend, was stecken noch für Überraschungen in dir?»
Stella war ganz rot geworden und schob den Zeichenblock schnell in ihre Tasche. «Na ja, das mache ich eben gerne, aber es gibt Leute, die können das besser.»
Ben hielt sie an den Schultern fest und schaute ihr einen Moment ernst in die Augen, bis sie den Blick senkte. «Stella, du bist viel zu bescheiden. Du bist extrem begabt.» Ben ließ sie los. «Darf ich die Zeichnungen behalten?»
Stella schaute wieder auf und lächelte ihn an. «Du bist hartnäckig, Ben. Von mir aus kannst du sie behalten, aber sie sind nicht so gut, ich habe das alles nur schnell skizziert.» Nicht sehr begeistert händigte sie ihm die Bilder aus.
Ben schüttelte den Kopf und entgegnete: «Wie sehen deine Bilder denn aus, wenn du mehr Zeit dafür hast?»
Stella überlegte einen Augenblick, dann kam ihr eine Idee. «Was hältst du davon, wenn ich ein Porträt von dir male? Aber so richtig, mit Farbe und allem. Kannst du mal eine Stunde oder etwas länger ruhig sitzen?»
Ben war begeistert. Die Vorstellung, Zeit allein mit Stella zu verbringen, war fabelhaft. Das mit dem Stillsitzen könnte zwar eine Herausforderung werden, aber der würde er sich stellen. «Das würdest du machen? Kann ich mir das denn leisten?», scherzte er.
Stella lachte. «Für dich mache ich es ausnahmsweise kostenlos. Normalerweise würde es dich einige Tausend Neuseelanddollar kosten.» Sie musste noch mehr lachen.
Dieses wunderbare Lachen.
«Morgen ist Samstag. Wir könnten an den Strand runtergehen, dann male ich dich dort. Das wäre ein toller Hintergrund.»
Ben war sofort einverstanden. «Wollen wir morgen direkt nach dem Frühstück losziehen?», fragte er.
Sie nickte und überlegte insgeheim, ob sie wohl diese Nacht überhaupt schlafen könnte vor lauter Aufregung. Ben begleitete sie und die Kinder bis zum Haus. Auch er war aufgeregt, wenn er an den nächsten Tag dachte.
Kapitel 5 : Sternenhimmel
Marcos Mutter Maria war bereits seit zwei Wochen in Neuseeland und genoss die Zeit mit ihrem Sohn, der Schwiegertochter und der Enkelin sehr. Auch mit Liz und Mahora kam sie gut aus. Sie unternahmen so oft wie möglich Ausflüge in der wunderschönen Umgebung.
Die Gegend war extrem dünn besiedelt, man konnte kilometerlang durch das trockene Hochland fahren, ohne ein Haus zu entdecken. Einmal fuhren sie an den Lake Tekapo, der sich mit seinem intensiven Blau aus der im Sommer gelbbraunen Umgebung klar heraushob. Der Himmel war fast so blau wie das Wasser und es war richtig heiß.
Natürlich mussten sie Marcos Mutter, die alte Kirchen liebte, unbedingt die Church of the Good Shepherd zeigen. Die einfache Steinkirche lag auf einer kleinen Anhöhe direkt am Lake Tekapo und zog die Touristen an wie ein Magnet. Viele stiegen hier kurz aus ihren Fahrzeugen, um einige Fotos zu knipsen.
Auch Maria wollte fotografieren, doch Grace machte ihr einen Vorschlag: «Spaziert ihr am See entlang, und ich lege mich hier auf die Lauer. Ich warte auf einen der seltenen Augenblicke, wenn sich gerade keine Person um die Kirche herum aufhält. Dann schieße ich dir einige Bilder, okay?»
Grace war eine talentierte Fotografin, deshalb willigte ihre Schwiegermutter gerne ein.
«Ich werde euch bald einholen, ihr kommt mit der Kleinen und dem Kinderwagen ja nicht so schnell vorwärts.»
So setzte sie sich in den Schatten vor der kleinen Kirche, während sich die anderen langsam auf den Weg machten. Sie wusste genau, von welcher Stelle aus sie fotografieren wollte, um ein schönes Bild zu knipsen, auf dem im Hintergrund der blaue See zur Geltung kam. Nach einer Wartezeit, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, bot sich tatsächlich ein kurzes Zeitfenster, um die Kirche ohne menschliche Wesen zu erwischen. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden.
Nun machte sie sich auf, um die anderen einzuholen. Sie fand ihre kleine Familie etwas weiter hinten am See. Marco vergnügte sich mit Emily im kalten Nass. Er hielt die Kleine über dem Wasser und tauchte immer wieder ihre Füßchen hinein, worauf sie diese hochzog und laut quietschte.
Maria schaute ihnen lachend zu. Grace setzte sich zu ihr und zeigte ihr die Fotos auf dem kleinen Display.
«Wunderschön, Grace! Du hast ein gutes Auge für schöne Bilder. Du könntest sicher etwas aus deiner ... äh ...», sie suchte nach dem englischen Wort. «Begabung! Du könntest etwas aus dieser Begabung machen.»
Grace lächelte. «Meinst du wirklich?»
Marcos Mutter nickte. «Du könntest zum Beispiel einen Kalender gestalten, den könntest du ganz bestimmt verkaufen. Also, ich würde dir auf jeden Fall die ersten Exemplare abkaufen und damit in der Schweiz meine Bekannten beschenken.»
Grace dachte darüber nach und spürte, wie diese Idee sie begeisterte. Sie wollte später mit Marco darüber sprechen. Dieser kam gerade aus dem Wasser, übergab die Kleine seiner Mutter und trocknete sich ab.
Grace sah ihren Mann kopfschüttelnd an. Der Lake Tekapo wurde auch im heißesten Monat Juli nie mehr als zwölf Grad warm. «Ist der See nicht extrem kalt?»
Marco lachte. «Na ja, er ist sogar für mich Bergler an der Schmerzgrenze! Aber ich weiß, dass das Wasser bei dir mindestens 25 Grad warm sein muss, damit du nicht frierst.» Er grinste frech.
«Ich bin eben eine Prinzessin», entgegnete sie und hob stolz den Kopf.
«Und ich bin dein Frosch», lachte Marco und quakte so laut, dass die kleine Emily zu weinen begann. Er drückte sie sanft an sich und beruhigte sie wieder.
Sie nahmen ihr Picknick aus der mitgebrachten Kühltasche und breiteten alle Köstlichkeiten auf der Decke aus. Sie genossen ihren Imbiss im Schatten der Bäume mit der grandiosen Aussicht auf den tiefblauen See und die Berge im Hintergrund.
«Deine Mutter meinte, ich könnte mit einigen meiner Fotos einen Kalender oder etwas in der Art gestalten und uns damit vielleicht eine kleine Aufbesserung für unseren Geldbeutel verdienen.»
Marco nickte und schluckte einen großen Bissen von seinem Sandwich hinunter. «Das ist eine gute Idee, mach das», sagte er mit halbvollem Mund.
«Meinst du wirklich?»
«Klar, du könntest es einfach versuchen.»
Grace überlegte und strahlte. «Ich könnte meine Waren Mom für den Wochenmarkt mitgeben, da kommen auch immer wieder Touristen vorbei, die sich vielleicht für so etwas interessieren.»
Liz verkaufte an ihrem Marktstand Produkte aus Wolle und Schaffell sowie Körperpflegemittel aus Lanolin, alles selbst hergestellt.
Marco fand den Gedanken sehr gut. «Das ist eine tolle Idee, das musst du unbedingt machen, Grace. Die Leute werden sich um deine Fotos reißen!»
Voller Elan griff Grace nach dem Fotoapparat und machte einige Aufnahmen vom See. Dann schwenkte sie die Kamera in die entgegengesetzte Richtung und schoss witzige Schnappschüsse von Maria, Marco und Emily: Marco, wie er gerade in sein drittes Sandwich biss und ihm ein Teil des Inhalts auf seine Shorts flutschte. Maria, die sich bei diesem Anblick fast kringelte vor Lachen, und Emily, die auf der Picknickdecke lag und angestrengt versuchte, Papas Fuß zu erreichen, um mit ihren ersten Zähnchen hinein zu beißen.
Grace hatte richtig Spaß dabei und es gelangen ihr viele tolle Aufnahmen. «Ich werde es versuchen!», rief sie und schwenkte ihre Kamera in der Luft.
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