Lisy sah mich ganz verschlafen an: »Was ist?«
»Es ist gleich Schluss!«, entgegnete ich genervt: »Hast du heute Nachmittag schon was vor?«
»Nein!«, antwortete sie. Perfekt! Genau das wollte ich von ihr hören.
Ich neigte mich leicht zu ihr rüber und starrte sie flehend an: »Ich will heute Nachmittag ins Fitnessstudio. Du weißt schon ... wegen diesem Typen, Rey. Kommst du mit? Bitte!«
Sie runzelte die Stirn: »Von mir aus! Ob Stene auch da ist?«
»Bestimmt! Obwohl ich mich an deiner Stelle lieber von ihm fernhalten würde. Hast du seine Augen gesehen? Der macht mir irgendwie Angst!«, antwortete ich schnell.
Lisy war, was diesen Mann anging, stets anderer Meinung als ich.
Deshalb wunderte es mich auch nicht, als sie mir direkt widersprach: »Mir nicht! Er ist so faszinierend!«
Das Klingeln durchbrach unser Gespräch. Alle standen auf und packten ein. Es war die letzte Stunde für heute. Zum Glück, sonst hatten wir länger Unterricht. Aber da der folgende Tag ein Feiertag war, machten sie einmal eine Ausnahme.
Die Schule war neben dem Sport die einzige Möglichkeit, mich selbst von dem Traum abzulenken. An diesen Orten spielten andere Dinge eine Rolle.
Im Training lenkte mich Rey ab. Ein sehr süßer Typ, den ich schon so manches Mal beobachtet hatte. In der Schule war es, wie sollte es anders sein, der ewige Konflikt mit stochastischen Rechnungen oder ewig ausartenden Erörterungen.
Lisy und ich waren beide im letzten Schuljahr am Gymnasium in Werdau. Es war kurz vor den Prüfungen.
Die schlimmste Zeit, wenn ihr mich fragt. Jeder Lehrer wollte das Meiste aus einem herausholen. Das hieß Hausaufgaben bis zum Abwinken und ewige Stundendiskussionen über Lösungswege.
Nichts für uns. Wir genossen lieber das Leben in unserer kleinen Stadt. Es war zwar nicht besonders viel los, aber man hatte alles, was man brauchte. Ein paar Einkaufsmöglichkeiten und zum Kino mussten wir nur bis zur Nachbarstadt fahren. Das Leben hier war nicht langweilig, aber überschaubar – eben Kleinstadtflair. Alles lief seine geregelten Bahnen, tagein, tagaus.
Als wir aus dem Zimmer traten, blieb Lisy auf einmal stehen. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Handy, wie immer eigentlich.
Ich war genervt und drängelte: »Ich will heim!«
»Ich doch auch! Irgendwo muss es doch sein! Cara, hast du es gesehen?«, antwortete sie schnell. Als ich sie so anschaute, sah ich es. Sie hatte es wie immer in ihre Jackentasche gestopft.
»Ist es vielleicht das?«, sagte ich, während ich es aus ihrer Tasche zog und vor ihrem Gesicht hin und her bewegte.
»Ja!«, man konnte eine tiefe Erleichterung in ihrem Gesicht sehen. Lisy war ohne ihr Handy nur ein halber Mensch. Was ich mir allerdings nie erklären konnte.
Ich gab es ihr zurück: »Na, dann komm endlich!« und wir gingen die Treppe hinunter zu den Spinden.
Ich trat vor meinen, während Lisy weiter nach hinten lief. Wieso man uns zwei Fächer soweit voneinander entfernt gegeben hatte, wussten wir beide nicht. Das Zufallsprinzip hatte es angeblich so entschieden.
Als ich mein Fach aufschloss, kam mir mein Motorradhelm schon fast entgegen gefallen. Die Mädchen hinter mir fingen an zu kichern. Diese Ziegen, dachte ich und warf ihnen einen bösen Blick zu, weswegen sie direkt verschwanden. An unserer Schule galt das ungeschriebene Gesetz, dass das Fahren von Motorrädern was für Männer war. Weshalb ich mit meiner Maschine des Öfteren belächelt wurde.
Die meisten Mädchen, so auch Lisy, fuhren lieber Moped. Kleine, süße Krachmacher, wie Lisy sie gern nannte. Ich legte den Helm nach unten und verstaute die Bücher, die ich nicht mehr brauchte. Dann schloss ich zu und ging samt Tasche und Helm zu Lisy.
Sie meckerte schon wieder vor sich hin: »Mensch, ist das Fach wieder voll! Ich glaub, ich muss anbauen!«
Als sie bemerkte, dass ich neben ihr stand, drehte sie sich zu mir: »Bist du schon fertig? Mach mal keinen Stress!«
»Mach ich doch gar nicht!«, ich lehnte mich an das Nachbarfach. Meine Gedanken kreisten um den Traum. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wieso er jetzt seit drei Wochen wiederkam. Irgendetwas musste das Ganze bedeuten.
»Hey, Cara, träumst du schon wieder? Also, halb vier vor dem Studio, Ok?«
»In Ordnung!«, entgegnete ich kurz.
Ich war mir sicher, dass sie genau wusste, woran ich gedacht hatte, aber im Moment wollte ich nicht darüber reden und auch das schien sie zu wissen.
Es gab eine seltsam enge Verbindung zwischen uns.
Trotz der Tatsache, dass wir uns erst seit einem Jahr kannten, weil ich aufgrund eines kleinen Problems mit einer Mitschülerin die Schule wechseln musste, waren wir wie Pech und Schwefel.
Ein eingespieltes und gutes Team in allen Lebenslagen.
Lisy scherzte stets, dass wir uns nach der Schule unbedingt eine Universität aussuchen mussten, an der wir gemeinsam studieren könnten. Immerhin durfte man dieses eingespielte Team auf keinen Fall trennen.
Vorher wollte sie aber mindestens ein halbes Jahr auf Reisen gehen. Am liebsten mit mir. Aber ich war nicht sonderlich von der Idee begeistert. Denn wo zum Teufel sollte ich das Geld dafür hernehmen?
Lisy war in vielem ganz anders als ich. Sie war klein, aber schlank, im Gegensatz zu mir. Und eigentlich mochten die Jungs Lisy, weil sie mit ihren rehbraunen Augen und den langen, braunen Haaren alle um den Finger hätte wickeln können.
Aber ihr geringes Selbstvertrauen machte ihr oft einen Strich durch die Rechnung. Ihre Familie war eher arm, weshalb Lisy oft babysitten ging, um sich Geld dazu zu verdienen.
Ich unterstützte sie immer wieder dabei.
Da ich wusste, dass sie noch länger brauchen würde, riss ich mich vom Spind los und ging nach draußen während ich ihr ein: »Bis dann!«, zurief.
Das Schulgelände war nicht sonderlich groß.
Neben unserem Hauptgebäude gab es noch eine riesige Turnhalle und ein kleineres Gebäude für die fünften und sechsten Klassen. In unserem Gebäude war vor allem zur Mittagszeit immer sehr viel los. Man wurde regelmäßig umgerannt.
Als ich die Tür erreichte, stürmten mir zwei Sechstklässler entgegen. Ich musste ihnen zu meiner Verärgerung ausweichen.
»Hey, ich steh hier auch noch! Meine Güte!«, schrie ich ihnen hinterher. Aber sie hörten wie immer nicht zu. Über das Schulgelände hinweg gelangte man zum Parkplatz. Eigentlich standen hier immer nur die Lehrer, aber mit der Zeit hatten wir es geschafft, einen Parkplatz für uns drei, Lisy, Taylor und mich, zu ergattern.
Seitdem standen hier nun jeden Tag fein säuberlich sortiert, je nachdem, wer als Erster wieder wegmusste, mein Motorrad und Lisys, sowie Taylors Schwalben.
Ich ließ die Tasche neben die Maschine fallen und zog meine Sandalen aus. Ich hatte zum Fahren immer ein zusätzliches Paar Schuhe dabei.
Nachdem ich die Schuhe gewechselt hatte, ließ ich den Motor an und setzte den Helm auf.
»Schönes Wetter, heute! Fahren Sie aber vorsichtig!«, rief mir jemand zu. Ich drehte mich verwundert um.
Ein paar Autos weiter stand unser Biologielehrer und blickte mich an. Er war zwar nicht groß, aber sehr interessant, wie Lisy immer sagte. Der Liebling aller Mädchen und der absolute Frauenheld. Alle verehrten ihn und ja, auch ich muss gestehen, er war wirklich sehr … faszinierend.
Vermutlich gab es genau deshalb die meisten Gerüchte über ihn. Von Scheidung und Single-Leben war da zu hören. Ich grüßte höflich und antwortete: »Ich werde ganz langsam fahren und die Sonne genießen!«
Er lächelte mich an und stieg in sein Auto. Als er vom Parkplatz fuhr, wendete ich gerade mein Motorrad. Er winkte noch einmal kurz. Dann verschwand er und ich verließ ebenfalls den Platz.
Das Geräusch der Maschine klang über die Straße und der Wind fegte durch meine Haare. Es war ein Gefühl von Freiheit und Glück. Ich liebte es so sehr. Nichts denken, nichts fühlen. Nur die Konzentration auf die Bewegung der Maschine. Frei wie ein Vogel schwebte man über den Asphalt.
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