Zwischen den Grabsteinen hören die beiden auf den Kieswegen Schritte und nach einiger Zeit auch ein leichtes Stöhnen, als ob jemand schwere Arbeit verrichtet. Albert und Jean reißen sich zusammen und schleichen sich näher ran, mit dem verschmusten kleinen Kätzchen im Schlepptau, das sich nicht mehr von Jean trennen mag.
Die beiden können bei dem schwachen Licht zwei dunkle Gestalten erkennen, die sich an einer Grabplatte zu schaffen machen. Es scheint ein recht frisches Grab zu sein, entweder sind das zwei Grabräuber, die nach wertvollen Grabbeigaben suchen, oder es sind die Verrückten, die die Leichen so entstellen. Sie sind sich nicht sicher, was ihnen lieber ist, Räuber oder Verrückte zu fangen. Sie warten noch ab, bis sie das Grab geöffnet haben, um zu sehen, was sie vorhaben.
Leider können sie die beiden Gestalten immer noch nicht erkennen, aber als sie die schwere Grabplatte zur Seite geschoben haben und der eine hineinsteigt, sehen sie, wie dieser eine Art Pflock mit beiden Händen in die Höhe reißt, um damit auf die Leiche einzustechen. In diesem Moment stürmen die Kommissare aus ihrem Versteck auf die Halunken zu. Jean hat mit dem, der im Grab kniet leichtes Spiel, er kann ihn oben an den Händen packen, die er ja nach oben gerissen hatte, um zuzustoßen und zieht ihn nach hinten um. Mit einem schmerzerfüllten Laut lässt dieser den Pflock fallen und versucht sich loszureißen, aber Jean hat ihn in seiner Umklammerung fest im Griff. Albert hat da etwas weniger Glück, er stolpert über Jeans neue Freundin, der kleinen schwarzen Katze und fällt dem zweiten Schurken direkt vor die Füße. Dabei löst sich ein Schuss aus seiner Pistole, die er gezogen hatte. Der zweite Halunke - fast zu Tode erschreckt - nimmt die Füße in die Hand und rennt schreiend davon. Dabei ruft er immer wieder etwas in einer Sprache, die den beiden unbekannt ist. „Murony! Murony!“ Ohne sich nach seinem Freund nochmals umzuschauen, ist der Grabschänder verschwunden. „Wenigstens haben wir einen geschnappt, mal sehen was das für ein Bursche ist.“ Albert rappelt sich nach seinem Sturz wieder auf und hilft Jean, der den anderen Kerl immer noch festhält. Dabei liegen die beiden mit der ursprünglichen Eigentümerin dieser Grabstelle in diesem engen Sarg. „Mein Gott, das ist noch ein Junge, gerade mal 15-16 Jahre alt! Gehörst du zu den Zigeunern? Was habt ihr hier nur vorgehabt? Habt ihr etwa auch die anderen Gräber so gotteslästerlich entweiht? Jean, brauchst du Hilfe?“ „Nein, lass dir ruhig Zeit, ich liege hier bequem… Natürlich brauche ich deine Hilfe, glaubst du, mir macht es Spaß hier auf der Toten zu liegen?“
„Bitte Messieurs, lassen Sie uns unser Werk vollenden, sonst wird großes Unglück über uns hereinbrechen. Bitte ich flehe Sie an, es geht um Leben und Tod.“ Angsterfüllt bittet der Junge die beiden Kommissare ihn freizulassen. „Das könnte dir so passen, am Ende sollen wir dir noch helfen die Leiche dieser armen Seele zu verstümmeln“, erwidert Albert, der dem zitternden Zigeunerjungen, der Tränen in den Augen hat, Handschellen umlegt. Nachdem Jean und der Junge aus dem Grab gestiegen sind, untersucht Albert die Sachen, die die beiden Grabschänder dabeihatten. Den Holzpflock hatten sie ja schon gesehen, aber unter den Habseligkeiten, die in ein Leinentuch gebunden waren, sind noch Mohnsamen, ein paar uralte Silbermünzen und Salz.
Kaum ist Jean wieder auf den Beinen, schnurrt schon wieder dieses schwarze Kätzchen um ihn herum. Um nicht auch über diesen süßen Fratz zu stolpern, nimmt er es auf den Arm. Als der Gefangene die kleine Katze sieht, wird er fast panisch: „Nein, nicht, lasst dieses Biest nicht an mich rankommen, dreht dem Ding den Hals um, euer Unglück ist sonst unvermeidbar!“ Jean gibt diesem unverschämten Jungen einen Klapps. „Was sind denn das für Manieren, was hat dir denn dieses arme Kätzchen getan? Du solltest aufpassen, was du sagst, sonst drehen wir dir noch den Hals um und stecken dich in das offene Grab zu der anderen!“ „Das würdet ihr wirklich tun? Alles nur das nicht, habt Mitleid.“ Die beiden wissen nicht, ob sie diesen jungen Kerl einsperren oder in eine Anstalt stecken sollen, der ist ja vollkommen plemplem.
„Erzähl was ihr hier vorhattet?“ will Albert wissen und schaut dem Jammernden streng in die Augen. „Meine Großmutter wird enttäuscht von mir sein, weil ich versagt habe, aber das ist alles ihre Schuld! Sie haben mich daran gehindert den Murony zu töten!“ „Murony? Das hat dein Kumpel doch vorhin schon geschrien, was ist das?“ „Ein Murony ist ein… ist ein…, wie heißt das noch mal? Ach ja ein Vampir!“
„Ein Vampir? Soll das ein Scherz sein?“ „Nein, schaut euch doch die Tote an! - Und ich flehe euch an tut diese Hexe weg!“ damit meint der Junge das schwarze Kätzchen auf Jeans Arm. „Pass auf, was du zu meiner neuen Freundin sagst, die ist doch ganz lieb.“ Es sieht auch herzzerreißend aus, wie das kleine kuschelige Knäuel auf Jeans Armen liegt und ihm die Finger leckt. „Schon gut, aber bitte, schaut euch die Tote an, sie wurde vor 3 Wochen begraben und ihre Fingernägel sind weitergewachsen und auch ihre Haare, seht ihr das nicht!“
Jetzt schauen die beiden doch auf die Leiche herunter. Im Schein der Laterne, die sie mittlerweile entzündet haben, wird ihnen doch etwas mulmig. Die Nägel sind tatsächlich unnatürlich lang, die Haare können sie schlecht beurteilen, da eine Frau nun mal lange Haare hat, aber könnte dieser Junge etwa recht haben? Auch die sonstige Erscheinung der Leiche ist merkwürdig, sie sieht noch so frisch und wohl genährt aus. „Ich weiß nicht, gibt es so etwas wie Vampire überhaupt? Meine Tante hatte mir immer wieder von solchen Gestalten erzählt, aber das waren doch nur Märchen. Was denkst du Albert, sieht sie nicht sonderbar aus?“ „Schon, aber was sollen wir machen, wir können doch nicht zulassen, dass er ihr den Pflock durchs Herz rammt.“ „Wieso nicht? Sie ist doch schon tot, wenn sie ein Vampir ist, würden wir das Richtige tun und wenn nicht? Schmerzen wird sie mit Sicherheit keine mehr empfinden.“ „Fängst du jetzt auch zu spinnen an? Wir bringen den Jungen aufs Revier und lassen die Leiche von Doktor Huisman dem Pathologen anschauen.“ „Dürfen wir das? Sie wurde doch schon beerdigt.“ „Hm, eine Leiche aus einem Grab dürfen wir wohl nicht einfach da rausnehmen. Aber angenommen, das Grab war ursprünglich leer und der Junge hat versucht dort eine Leiche zu verscharren, dann müssten wir doch die Leiche untersuchen lassen, zumindest um festzustellen, dass es sich wirklich um die Tote auf dem Grabstein handelt. Wir sind schließlich erst hinzugekommen, als das Grab schon geöffnet war.“ Gegen diese Argumentation kann Jean natürlich nichts erwidern, so stören sie die Totenruhe der unseligen Begrabenen und lassen sie zu Doktor Huisman bringen. Als die Tote herausgehoben wird, bemerken die Anwesenden am Hals derselben mehrere Male. Könnte es stimmen, was der Junge erzählt hatte, und es handelt sich tatsächlich um einen Vampir?
„Ist es Ihnen wirklich recht, wenn ich hier auf meinen Sohn warte?“ „Was ist das für eine Frage, natürlich können sie so lange bleiben, bis Albert wiederkommt. Ich befürchte fast, das wird erst sehr spät in der Nacht sein. Aber ich mache Ihnen gerne unser Gästezimmer zurecht, und mein Bruder Jean nimmt sie morgen mit zum Revier.“ Im Hause Roussou wird Gastfreundschaft großgeschrieben, und wenn es sich um Alberts Mutter handelt, erst recht. „Können Sie mir sagen, wieso mich mein Sohn nach Paris gerufen hat? Er wollte unbedingt, dass ich ihm den Ring meiner Mutter mitbringe. Es kann eigentlich nur bedeuten, er braucht ihn, um jemandem einen Antrag zu machen. Ich kann das eigentlich gar nicht glauben, er ist doch erst ein paar Tage von zu Hause weg. Ich hoffe doch, er hat nicht so ein leichtlebiges Pariser Mädchen kennengelernt, das ihm den Kopf verdreht hat. Hier in Paris kommt man doch so schnell unter die Räder, was man nicht alles von den unzüchtigen Frauen hier hört?“ „Aber Madame, ich hoffe doch, Sie meinen mich nicht auch damit, ich bin eine waschechte Pariserin und kann Ihnen versichern, dass es hier nicht weniger oder mehr unsittliche Frauen gibt als anderswo!“ protestiert Marie, die von den Worten von Frau de Menier doch etwas verletzt ist. „Ich kann Sie aber beruhigen, ihr Sohn ist nicht in die Falle eines leichten Mädchens gegangen. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber sie ist eine ganz Nette. Albert soll Ihnen am besten selbst alles erzählen, sonst bekomme ich am Ende noch Ärger, wenn ich alles hinausposaune.“ „Wie lange sind Sie und der Herr Pastor eigentlich schon verlobt?“ Der Pastor bekommt einen Hustenanfall, als er die Worte vernimmt, und Marie schaut ihn ganz verliebt an, während sie ihm auf den Rücken klopft, um ihn vom Hustenanfall zu befreien. Alberts Mutter tritt ja nicht absichtlich in jedes Fettnäpfchen, aber das waren jetzt gleich zwei hintereinander.
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