Die Nachbarin hob abwehrend die Hände: „Ich bitte sie, befragen sie darüber nicht mich. Ich kann nicht mehr. Ich bin, Entschuldigung, ich war nur mit Evelyn befreundet. Der Herr Stanicki war für mich immer etwas unnahbar. Sprechen sie eben mit ihm selbst.“
„Er steht mir momentan nicht zur Verfügung. Ich weiß noch weniger wie sie, wo er sich aufhält.“ Armin Schönfelder ließ nicht locker. „Deshalb, Frau Kortenbach, muss ich auch in dieser Ausnahmesituation konkret hinterfragen: Wenn der Herr Stanicki öfter nicht zuhause war und wenn er gerade heute an diesem unglücklichen Sonntag nicht anwesend ist, hatte, beziehungsweise hat er eine Freundin und schläft dort immer wieder?“
Die Nachbarin verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, schluchzte laut und blieb die Antwort schuldig.
Nun wandte sich Armin Schönfelder wieder dem Arzt zu: „Könnten wir auch annehmen, dass die Kratzspuren im Gesicht der Toten einige Tage alt sind? Oder ist das angetrocknete Blut, wie sie vorher bereits andeuteten, relativ frisch mit Sauerstoff in Verbindung gekommen? Sprechen diese Verletzungen für einen Streit, dessen Ausgang in einem Suizid oder vielleicht sogar Mord endete?“
„Klar ist auf jeden Fall, dass die Verletzungen frisch sind! Woher sie stammen, ob von einer fremden Person oder im Todeskampf selbst zugefügt, muss geklärt werden. Hätte ich eindeutig einen Suizid festgestellt, hätte ich meine Bedenken nicht direkt ihrer Dienststelle mitgeteilt! Ich erkenne auch kuriose, unterschiedliche, blutunterlaufene Stellen am Hals. Die Vielzahl der Verletzungen an der Toten müssen Spezialisten klären. Die kriminaltechnische Untersuchung oder der Seziertisch werden alle ihre Fragen beantworten. Mit hoher Sicherheit“, antwortete der Notarzt ausweichend. Offensichtlich wollte er schnell den unappetitlichen Ort verlassen, an dem sein ärztliches Können nicht benötigt wurde.
„Ist in Ordnung, Herr Doktor. Ich habe die KTU bereits bei meiner Anfahrt hierher zusammengetrommelt. Ich erwarte sie minütlich.“ Mit einem knappen, „danke ihnen“, entließ er den Arzt.
„Frau Kortenbach, benötigen sie Hilfe?“ Armin Schönfelder sah besorgt der Nachbarin ins Gesicht. „Der Notarzt steht, wenn sie es wünschen, auch ihnen zur Verfügung. Sollte ich ihn aufhalten?“
Ein gehauchtes “Nein“ folgte von der immer noch im Sessel kauernden Nachbarin. Sie schüttelte dazu laut schluchzend den Kopf.
„Leben sie allein in ihrem Haus nebenan?“ Armin Schönfelder wollte in Erfahrung bringen ob er den Täter vielleicht im Umfeld der Nachbarin suchen müsste. Aber auch, ob er sie allein mit ihrem Schmerz lassen könne.
„Ich lebe, seit mein Sohn Constantin vor acht Jahren auszog und mein Mann vor fünf Jahren starb, ohne Mitbewohner. Ich bin das Alleinsein mittlerweile gewohnt. Ruhe tut mir gut. Ich benötige niemand mehr, der mir sagen will, wo es langgeht.“
„Zu ihrem Sohn stelle ich ihnen später noch die eine oder andere Frage, Frau Kortenbach“, Armin Schönfelder sprach bewusst leise, „ich möchte sie nicht über die Maße belasten. Mich interessiert jetzt gerade dringender, wo das Kabel herkommt und die Steckverbindungen die da drüben liegen. Kennen sie diese Teile?“
Magdalena Kortenbach schaute traurig zur anderen Seite. „Ja, kenne ich. Es ist das Verlängerungskabel aus der Küche. Das hat Evelyn immer einsetzen müssen, wenn sie die große Küchenmaschine zum Teigkneten benötigte. Die Elektriker hatten beim Bau damals wohl zu wenig Steckdosen gesetzt.“
Nach ein paar Sekunden ergänzte sie: „Auch der Stuhl gehört in die Küche.“
„Danke, Frau Kortenbach, sie dürfen dann gerne in Ihr Haus hinübergehen. Doch eine Frage bewegt mich noch: Kennen sie eventuell Geschwister, Neffen oder Nichten der Stanickis, die ich benachrichtigen müsste?“
„Nein, kenne ich nicht. Aber da gibt es welche. Zumindest eine Nichte oder Cousine, wie Elvira immer sagte. Elisabeth heißt sie. Die kam immer nur einmal im Jahr und da auch nur abends, zur weihnachtlichen Bescherung. Gesehen habe ich die nie. Ging mich auch nichts an.“
„Nochmal, Danke“, Armin Schönfelder reichte die Hand, „bitte entschuldigen sie die Unannehmlichkeiten. Den Haustürschlüssel der Stanickis übergeben sie bitte den Polizisten. Sie bekommen ihn bald wieder zurück.“
„Ich werde die Schlüssel für Haustür und Briefkasten nicht mehr an mich nehmen. Niemals mehr“, sagte die Nachbarin und zitterte am ganzen Körper als überfiele sie ein Anfall von Schüttelfrost. Wie in Trance erhob sie sich aus dem Sessel und wankte tief in sich zusammengesunken zu ihrem Haus hinüber. Die angebotene Hand des Kriminalpolizisten ignorierte sie.
„Sie bleiben bitte noch eine Weile hier“, bat Armin Schönfelder die Polizisten, „wir gehen aber aus dem Wohnzimmer raus. Mir war es nicht recht, dass sich die Nachbarin einfach in den Sessel plumpsen ließ. Hier müssen noch Spuren gesichert werden. Und ich möchte mit ihnen beiden nun das Haus untersuchen.“
Es brauchte viel Zeit, alle Räumlichkeiten, von unterschiedlichen Kellerräumen bis zur ausgebauten Galerie im Giebel, zu besichtigen. Zimmertüren quietschten, Schranktüren klapperten, Schubladen an Kommoden wurden auf- und zugezogen. Immer wieder leuchteten die Taschenlampen der Uniformierten auf. Das Flüstern der beiden Polizisten mit Armin Schönfelder wirkte im Halbdunkel der geschlossenen Rollläden gespenstisch.
Jeder einzelne Raum zeigte sich äußerst normal, gepflegt, sauber, aufgeräumt. Auch sechs Augen fanden weder Hinweise noch Anhaltspunkte zum Tod der, nun ehemaligen, Bewohnerin.
„Danke Kollegen,“ sagte Armin Schönfelder, „ich sehe gerade auf dem Gartenweg die Mitarbeiter der KTU kommen. Die drehen, wenn es sein muss, ohnehin das gesamte Haus nach Spuren von links nach rechts. Bitte überlassen sie mir den Hausschlüssel. Wünsche einen schönen Restsonntag.“
Mit knappem Gruß verließen die beiden Polizisten den Tatort des, so vermuteten auch sie, Selbstmord in psychologischer Ausnahmesituation.
„Kostet uns“, knurrte der ältere der beiden im Auto angekommen, „immer zu viel Zeit, so ein blöder Selbstmord. Zunächst vor Ort und später beim mühevollen Schreiben eines ausführlichen Berichts. Und die Kriminaler spielen sich auf, als wären nur sie allein in der Lage, solch einen Sachverhalt aufzuklären. Schlussendlich brauchen sie uns doch immer wieder.“
„Undank ist der Welten Lohn“, kalauerte der jüngere Polizist.
„Danke Kollegen, dass ihr so schnell gekommen seid“, begrüßte Armin Schönfelder die drei Spurensucher und einen Rechtsmediziner.
„Grüß Gott Herr Schönfelder. Danke, dass sie, Herr Hauptkommissar, uns gerade an diesem sonnigen Tag zur Arbeit gebeten haben. Sehr freundlich von ihnen. Also, großes Dankeschön für den heutigen Sonntagsdienst,“ grüßten die Spurensicherer ironisch den Kriminalhauptkommissar zurück.
Armin Schönfelder ignorierte die Spitzen und antwortete nur: „Ich euch auch.“
Bei allen Mordfällen der letzten Jahre, konnte er mit der hohen fachlichen Kompetenz dieser Spezialisten rechnen.
Hans Joachim Fischer, nicht verwandt oder verschwägert mit den Fischers aus der Wissener Spielerunde, war auf die direkte Untersuchung der Toten spezialisiert. Eine Aufgabe, die in den wenigsten Fällen als appetitlich bezeichnet werden konnte. Er aber konnte dennoch ruhig schlafen. Hans Joachim Fischer fiel durch seine spiegelglatte Glatze auf, die sich bereits in jungen Jahren angedeutet hatte und die sich zu seinem Entsetzen, beim täglichen Blick in den Spiegel, unaufhaltbar ausbreitete. Als modischen Kontrastpunkt trug er ausschließlich Hemden und Pullover mit einer fetten, bunten Aufschrift: „Hudson Bay“.
Matthias Wegener sicherte die Spuren ausschließlich rund um den Tatort. Er war der Mann, der akribisch alle Fingerabdrücke, Fußspuren oder Fasern lesen konnte. Sein Betätigungsfeld umfasste das gesamte Areal um die Taten. Das Haus und Grundstück und, wenn notwendig, das Gelände weit darüber hinaus. Sein dichter Vollbart wirkte als würde er stets etwas mürrisch in die Welt schauen. Doch das täuschte, er war an den meisten Tagen gut gelaunt.
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