Lustlos, mit schleppenden Schritten ging Armin Schönfelder in die Diele. Sein Gehirn verknüpfte in einem Bruchteil von Sekunden ein Bild von Pflichtbewusstsein und Ärger darüber, dass der geplante romantische Tag wohl ausfällt und mit traurigen Augen seines Enkels Luca enden wird. Aber denken oder fühlen hilft nicht, wenn sich das mal geliebte, mal verfluchte Diensthandy meldet. Auch nicht am freien Sonntag.
Auf dem Garderobentisch vibrierte und piepte es weiter, unaufhörlich und unangenehm laut. Nichts deutete auf einen Fehlalarm hin. Der Klingelton schrillte ohne Unterbrechung weiter, immer weiter.
Armin Schönfelder, plötzlich nicht mehr lieber Opa, sondern akkurater Kriminalhauptkommissar, nahm ab und nickte mehrfach wortlos mit dem Kopf. Mimik und Gesichtsfarbe zeigten von Sekunde zu Sekunde, dass ihm dieser Einsatz äußerst ungelegen kam.
Gerade heute, an einem der wenigen Wochenende im Jahr, an denen er gemeinsam mit seiner Frau und Enkel Luca einen unterhaltsamen Tag hätte unternehmen können, war die Leiche einer Frau gefunden worden. In seinem Zuständigkeitsbereich, im eher betulichen Städtchen Wissen, ein paar Kilometer weiter unten an der Sieg.
Der Sessel quietschte laut als sich Armin Schönfelder in ihn fallen ließ. Bedächtig putzte er seine Brillengläser. „Tut mir leid! Weißt du, Luca, es gibt Situationen, da muss man schleunigst handeln. Alle wichtigen Indizien und Spuren verwischen sich sonst rasend schnell.“
„Was für Inzien oder Spuren, Opa?“ Es gab Worte, mit denen Luca noch nichts anzufangen wusste.
„Das sollten wir besprechen, wenn ich heute Abend zurückkomme. Wir bitten Oma ob sie in der Zwischenzeit mit dir etwas unternimmt“, sagte Armin Schönfelder, stand auf und schaute nach seiner Frau Sybille, die direkt vom Frühstückstisch in den Garten gegangen war.
„Bille, Entschuldigung, ich muss zu einem Eileinsatz, bitte kümmere dich um Luca. Tut mir wirklich sehr leid“, sagte er über die Terrasse hinunter.
Seine Frau reagierte ungehalten: „Wieder eine erfreuliche Wochenendplanung für die Katz! Dass deine Mordkommission meist am Samstag oder Sonntag zum Einsatz gerufen wird, ist verdammt frustrierend. Vielleicht solltest du zu einer Sondereinheit „Steuerhinterziehung oder Wirtschaftskriminalität“ wechseln, die ärgern Staat und Klienten zumeist nur an Werktagen.“
Sybille Schönfelder trat aus dem Garten ins Haus und überlegte laut: „Darfst du mir wenigstens verraten, wohin du zum Einsatz fahren musst?“
„Auf den Alserberg, hoch über der Sieg, in Wissen. In eine Straße, in der große Gärten und einige prachtvolle Einfamilienhäuser auf gut gefüllte Brieftaschen hinweisen. Dort oben, wo aus der Ferne vom hohem, windsicheren Westerwald herüber, fleißig drehende Rotorblätter der Windräder grüßen.“
Dann flüsterte er, sodass es Luca nicht hören konnte, seiner Frau ins Ohr: „Unangenehme Geschichte heute, Suizid einer Frau mittleren Alters.“
„Und was sollst du als Kriminalpolizist bei einem Selbstmord aufklären?“
„Ein hinzugerufener Notarzt wollte das Leben der Frau retten. Vor Ort aber stellten sich ihm durch vielerlei Sachverhalte mehrere Fragen: Suizid, Unfall oder Mord. Er und zwei Kollegen der Polizeiwache Wissen erwarten mich bereits.“
„Wird es wieder lange dauern bis du zurückkommst?“
Armin Schönfelder zuckte mit den Schultern. Mit großen Schritten ging er zur Garderobe und sagte: „Ich hoffe sehr, dass ich heute Nachmittag zu Tee und Kuchen wieder hier sein kann. Sollten sich jedoch die unterschiedlichen Andeutungen des Notarztes bewahrheiten, könnte es länger dauern. Die Hauptarbeit, die Recherchen, beginnen aber erst morgen.“ Er streifte seine Freizeitjacke ab und hing sie in den Garderobenschrank. Dann zog sich er seine karierte Jacke über, die er stets dienstlich trug und deren Schnitt er schon immer mochte: Klassischer, englischer Sakko mit zwei Rückenschlitzen.
Unter der Haustür drehte er sich kurz um und rief bereits gedanklich abwesend: „Also, ich wünsche euch beiden viel Vergnügen. Auch ohne mich. Wir sehen uns hoffentlich zum Nachmittagstee. Tschüss, bis bald.“
„Mögen Touristen diese kurvige Bundesstraße gerne langfahren“, brummelte Armin Schönfelder kurze Zeit später im Dienstfahrzeug vor sich hin, „mir wäre eine gerade, dadurch schnelle Verbindung zum Einsatzort lieber. Ich müsste nicht jeden engen Straßenbogen im Tal der naturbelassenen Sieg ausfahren.“
Gespannt und etwas mürrisch schaute er in einer Rechtskurve zu einem Ausläufer des Westerwaldes hoch, dem markanten Steckensteiner Kopf. Noch leiser als vorher murmelte er: „Der Volksmund nennt diese steil abfallende Felswand den Selbstmörderfelsen. Und ich bin verpflichtet, heute einen Suizid im Städtchen Wissen aufzuklären. Alles keine guten Vorzeichen für diesen Sonntag.“
Auch mit seiner Einschätzung eines zeitlich kurzen Besuches am Tatort lag er vollkommen daneben.
Die Rollläden, am Einfamilienhaus in Wissen an der Sieg, waren rings ums Haus herunter gelassen. Komplette Abdunkelung an einem Sonntagmittag? Äußerst seltsam. Und in diesem Fall das äußere, nicht unerwartete Zeichen, dass jedes Leben endlich sein wird. Sonst entdecke ich nichts Auffälliges, dachte Armin Schönfelder noch hinterm Lenkrad sitzend.
Routiniert streiften seine Augen über das Anwesen. Das Haus höchstens zwanzig Jahre alt. Zeitgemäßer Baustil. In üblichem Weiß gestrichen die Außenwände, dunkelblau lasierte Dachziegel. Blumenloses Balkongeländer, aus Metall, blau wie die Dachziegel gestrichen. Aufgeräumt wirkt alles zusammen, gut bürgerlich. Auch die Eibenhecke scheint frisch zurechtgestutzt. Haus und Garten bis in die letzte Ecke geschniegelt.
Neben der schweren Gartentür ein großformatiger Briefkasten aus matt geschliffenem Edelstahl, dahinter Stufen aus grau gemasertem Naturstein. Der ansteigende Gartenweg mit einzelnen, unbehauenen Steinplatten belegt, dazwischen feiner Basaltschotter. Und oben, vor der Haustür, nochmal Stufen.
Keine Alarmanlage und zumindest, nach vorne hin, keine Videokamera sichtbar, stellte sein geübtes Auge fest.
Am Straßenrand, vor dem Grundstück, stand ein silbernes, blau beschriftetes Polizeifahrzeug. Überaus auffällig auch das Auto des Notarztes. Unübersehbar, weil offensichtlich der Mediziner höchst konzentriert zu der vermeintlichen Patientin eilte und vergaß, die aufgeregt blinkenden Blaulichter auszuschalten.
Armin Schönfelder stellte seinen silbergrauen Dienstpassat direkt vor der Gartentür ab. Ohne Zeit zu verlieren, rannte er mit großen Schritten, den kurzen aber steilen Weg zum Haus hinauf. Die Haustür stand weit offen.
Im Wohnzimmer warteten auf den Leiter der Mordkommission bereits der Notarzt, zwei Revierpolizisten und die Nachbarin, Frau Kortenbach. Alle Vier standen im Halbkreis um die Leiche einer Frau, die bereits abgehängt war. Um den Hals, anliegend doch leicht gelöst, hing immer noch ein schwarzes Kabel. Der Knoten war vorsichtig geöffnet worden.
Direkt neben ihr lag wie ein untrügliches Zeichen ein umgefallener Stuhl.
In einer Ecke des Wohnzimmers, am denkbar unüblichsten Ort, entdeckte Armin Schönfelder, einen Stecker und eine Dreifachsteckdose. Ebenfalls in Schwarz, wie das Kabel. Offensichtlich waren sie vom Kabel abgetrennt und zur Seite geschubst worden.
Armin Schönfelder kniete nieder und betrachtete eingehend die Leiche. Sie war angezogen als würde sie ausgehen wollen oder Besuch bekommen, empfand er. Durch dick aufgelegte Schminke, Puder, Kajal, Lippenstift und Rouge, leuchtete die weiße Haut der Toten drastisch hindurch. Allerdings überwogen einige Kratzer im Gesicht und am Hals. Die blond gefärbten Haare hingen wild zerzaust herunter. Eine blaue Strähne klebte wie überflüssig auf der Stirn.
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