Mir fällt auf, dachte der Hauptkommissar, dass die gesamte Kleidung nur leicht verschoben, nicht verzerrt oder verdreht, an der Leiche anliegt. Typisch für einen Selbstmord. Weshalb aber zerzaust eine gut gekleidete Frau ihre sicherlich fein gekämmte Frisur vor einem Suizid?
Welche Bilder, fragte er sich, ziehen an einer Selbstmörderin in den letzten Bruchteilen von Sekunden des Lebens vorbei? Ein strahlendes, erlösendes Hell am Ende des Tunnels? Das befürchtete, unendliche schwarzes Loch? Kommen Bilder eines unruhigen Lebens im Großformat auf sie zugerast? Wie weit zurück reicht das Erinnerungsvermögen? Wird sie die Schimpfe ihres Grundschullehrers einholen? Vielleicht muss sie eine ihrer bösartigsten Streitereien mit ihren Mitmenschen nachvollziehen? Erlebt sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens in einer Endlosschleife, in Zeitlupe? Sieht sie von ganz nah dem Menschen in die Augen, der sie in den Suizid trieb? Genau wird man das wohl nie erfahren.
Armin Schönfelder stand auf und reckte den Rücken durch. Dann kniete er wieder zu der Toten, schaute nach Schmuck: „Sie trägt einen mittelbreiten Ehering aus Gelbgold“, er flüsterte unbewusst, „am linken Arm protzt eine große Uhr, ein auffälliger Chronometer mit metallenem Gliederband, am rechten mehrere schmale, goldene Armreifen.“
Bis hierher eindeutig Suizid, jedenfalls kein Raubmord, folgerte der Kriminalhauptkommissar.
Armin Schönfelder ging auf die zwei uniformierten Kollegen zu und bat sie um Ihre Einschätzung: „Konnten sie bereits Fakten sammeln?“
Der junge Polizist sprudelte gleich los: „Auf der Polizeischule wurde uns gelehrt, dass ein Suizid immer eine Form von Schuldeingeständnis ist…“
„Bitte der Reihe nach. Keine pauschalisierenden Lehr-sätze. Zuerst die Fakten!“ unterbrach Armin Schönfelder.
Der ältere der beiden Uniformierten ging zwei Schritte nach vorne und stellte sich vor den jungen Kollegen. Er antwortete mit klaren Worten: „Herr Kriminalhauptkommissar, uns rief der Notarzt. Der hatte, über Gesicht und Hals der erhängten Frau verteilt, tiefe Kratzspuren festgestellt. Diese deuten nicht auf einen klassischen Suizid, sondern auf eine körperliche Auseinandersetzung oder einen heftigen Kampf hin. Es ist anzunehmen, direkt vor dem vermutlichen Suizid.
Eventuell, dies könnte ein denkbares Motiv sein, stritten sich die Eheleute. Zuerst verbal, danach körperlich, mit üblen, sichtbaren Folgen für die Frau. Anschließend verließ der Ehemann Frau und Haus. In großer Verzweiflung erhängte sie sich. Dann läge also ein normaler Suizid vor, wenn man bei solch einer Kurzschlusshandlung von normal sprechen kann.
Sie von der Kripo werden, wenn alle Spuren dokumentiert sind, sicherlich noch weitere Theorien aufstellen müssen.“ Bei diesem Satz lächelte der Polizist süffisant, um dann weiter zu sprechen:
„Die Identität der Toten haben wir bereits festgestellt. Es handelt sich um Evelyn Stanicki. Sie bewohnt hier gemeinsam mit ihrem Ehemann dieses Haus. Allein, ohne weitere Mitbewohner. Der, so hört man in der Stadt, ist verdienstvoller Vereinsvorsitzender eines Basketballklubs und Kreistagsabgeordneter. Sein Name: Waldemar Stanicki. Er verfügt seit Jahren in seiner Partei über einen einwandfreien Leumund. Diese räumte ihm bei Wahlen immer einen der vordersten Listenplätze ein. Hinter vorgehaltener Hand wird in der Stadt darüber gemunkelt, dass er dafür bekannt ist, sein Gesicht in jede Kamera zu halten.“
Armin Schönfelder unterbrach ungeduldig: „Bleiben wir bei den Fakten, fanden sie einen Abschiedsbrief oder sonstige Hinweise zum Ableben dieser Frau? Ist gesichert, dass die Tote freiwillig aus dem Leben schied?“
„Nein, überhaupt nichts fanden wir“, war leicht beleidigt die knappe Antwort, „dies und alle erfassten Daten können sie unserem ausführlichen Bericht entnehmen. Heute, zum Schichtende, werden wir ihn erstellen.“
„Noch eine Frage, Kollegen: Müssen wir die Eltern der Toten informieren oder leiblichen Kindern die Nachricht vom Suizid überbringen?“
„Nein, nach unserem Wissensstand leben die Eltern nicht mehr und die Eheleute Stanicki sind kinderlos. Nach Neffen oder Cousinen werden wir noch forschen. Sie hören dann.“ Beide Polizisten steckten ihre Notizbücher in die Brusttaschen, nahmen die Schirmmützen ab und stellten sich in eine Ecke des Wohnzimmers.
Armin Schönfelder bat den Notarzt in die Küche. Er wollte dessen neutrale Sicht hören und dies nicht unmittelbar neben der Toten. Dieser berichtete etwas kurzatmig: „Ich wurde aus dem Haus von der hier anwesenden Nachbarin angerufen. Magdalena Kortenbach ist ihr Name. Sie konnte sich am Telefon laut weinend kaum verständlich artikulieren. Mehr wird sie ihnen selbst berichten. Vier Minuten nach dem Anruf war ich bereits hier vor Ort. Hängte umgehend die Frau ab und versuchte sie zu wiederbeleben. Dabei entdeckte ich frische Wunden an Wangen und Hals. Einen Totenschein konnte und wollte ich noch nicht ausstellen. Mir fehlte die wirkliche Todesursache. Also, sie kennen die Rubrik: Todeszeit, Tod durch. Und so weiter und so weiter.
Ich gehe dringend davon aus, dass die Leiche intensiv im Obduktionsraum der Forensik untersucht werden muss.“
„Schon klar. Aber danke, dass sie absolut richtig reagiert haben“, antwortete Armin Schönfelder ebenso knapp. „Doch eine Frage brennt mir noch unter den Nägeln: War die Tote vor der Ermordung ausgezogen und ist erst nach der Tat wieder in ihre Kleider gesteckt worden?“
„Ich denke zu wissen, was sie vermuten“, antwortete der Notarzt umständlich, „doch ich konnte auf die Schnelle keine Sexualstraftat entdecken. Ich wollte auch keine Spuren verwischen. Mehr dazu, auch zu diesem Verdacht, nach der Obduktion.“
Nach diesem kurzen Gespräch gingen Armin Schönfelder und der Notarzt ins Wohnzimmer zurück.
„Und nun zu ihnen, ich sage mal, Frau Nachbarin,“ sagte Armin Schönfelder und putzte, um Ruhe auszustrahlen, gemächlich seine Brillengläser. „Ihre komplette Adresse, Frau Kortenbach, haben ja bereits die Kollegen von der Wache Wissen aufgenommen. Was veranlasste sie, heute das Haus hier zu betreten? Weshalb entdeckten sie und wie fanden sie die Tote?“
Die Nachbarin fragte: „Darf ich?“ und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in einen Sessel. Anschließend trocknete sie ihre Tränen und putzte laut die Nase. Sie atmete, laut hörbar, tief durch und erzählte dann:
„Ich hole, außer im Urlaub, jeden Sonntagmorgen, beim Bäcker Müller frisch gebackene Brötchen. Für mich und die Stanickis. Seit Jahren vertrauen mir die Stanickis ihren Haustürschlüssel an. Auch für Post und Blumenpflege, wenn sie verreist sind.
Ich öffne dann sonntags immer die Haustüre und stelle leise die Brötchen dahinter in den Flur.
Heute fiel mir bereits beim Blick hinüber auf, dass alle Rollläden heruntergelassen waren, während üblicherweise nur das Schlafzimmer abgedunkelt ist. Ich dachte, die sind doch nicht zusammen weggefahren? Haben sie vergessen mich zu informieren? Weshalb ist heute das ganze Haus abgedunkelt?
Ich ging hinüber, trat ins Wohnzimmer, schaltete das Licht an und sah Evelyn mit dem Kabel um den Hals an dem schweren Kronleuchter hängen. Dann rief ich mit meinem Handy die Notfallnummer an.“
„War der Ehemann nicht anwesend?“ Armin Schönfelder wunderte sich.
„Hab ihn heute noch nicht gesehen“, die Nachbarin schnäuzte wieder in ihr Taschentuch. „Der war öfter mal weg.“
Armin Schönfelder zog die Augenbrauen hoch: „Beruflich weg oder sonst irgendwie verreist?“
„Ich kann dazu nichts sagen“, die Nachbarin wurde verlegen, „eben öfter mal weg, auch über Nacht. Da müssen sie ihn selbst fragen.“
Armin Schönfelder pflegte, wie so oft, wenn er Zeit benötigte, seine Marotte und rieb in aller Ruhe die Gläser seiner Brille aus. „Frau Kortenbach, wenn sie befreundet mit der Familie Stanicki sind und sogar über deren Hausschlüssel verfügen, können sie mir doch erläutern, wie das Zusammenleben dieses Paares in letzter Zeit auf sie wirkte.“
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