Die Sekretärin lächelte:
„Wir arbeiten mit der Kanzlei Gerber, aber ich glaube kaum, dass sie Privatkunden annehmen.“
„Schade, dann muss ich woanders fragen. Ich habe die Blumen auf ihren Schreibtisch gestellt. Falls es länger dauert, schauen Sie nach dem Wasser?“, fragte er die Sekretärin, um vom Thema abzulenken. Dann fiel ihm die andere Tür auf, die ins Büro von Daniel Schmid führte. Ein Namenschild war angebracht, auch wenn er die Tür noch nie offen gesehen hatte. Er fragte die Sekretärin unschuldig:
„Daniel Schmid ist wohl nicht oft hier. Ich habe ihn jedenfalls noch nicht kennengelernt.“
„Er kommt sehr unregelmäßig. Jetzt war er schon einige Monate nicht da, außer letzte Woche für drei Tage. Er vertritt unsere Filiale in Hongkong und macht die weltweiten Akquisitionen.“
„Was ist eigentlich das S. in Daniel S. Schmid?“
„S. steht für Stephan.“
Dann war John Etter wieder draußen. Schade, dass er Alina nicht antraf, doch so hatte er noch Zeit, das Foto zu bearbeiten.
Als er in seinem Büro ankam, kopierte er das Portrait des jungen Mannes heraus. In der Vergrößerung entfernte er den Bart. Er hatte eine Ahnung, doch er würde den richtigen Zeitpunkt abwarten, um dieses Foto zu benutzen.
Er dachte an Alina. Er sah sich wieder im Restaurant The Blinker sitzen, bevor sie weggefahren war. Er hatte ihre Hände gehalten und den Handrücken gestreichelt. Ihre tiefblauen Augen zogen ihn an. Auch wenn er nur an sie dachte, fühlte er ihre Nähe, sah das tiefe Blau vor sich und wollte in ihr versinken.
Ein Schlag auf die Schulter ließ ihn zusammenzucken. „Unentschieden!“ Susanne war sichtlich stolz, dass es ihr gelang, sich von hinten unbemerkt an John Etter anzuschleichen und ihn zu erschrecken.
„Höchstens zehn zu zwei“, antwortete John Etter bereits wieder gefasst.
„Ok, du bist der Boss. Hast du den Monatsbericht durch?“
„Aber sicher! Danke Susanne.“
„Läuft gut, gell!“ Susanne schaute, nun vor ihm stehend, starr in die Augen.
„Ja. Danke Susanne“, wiederholte John, ohne dass Susanne den Blick veränderte. Er wusste, worauf Susanne wartete.
„Ok, dein Lohn, ich weiß. Ich habe es versprochen und das halte ich auch. Wir sind über das Gröbste schon länger hinweg und du kannst dir ab nächsten Monat zehn Prozent mehr ausbezahlen. Stimmt das für dich?“
Susannes Augen veränderten schlagartig den Ausdruck. Mit so viel hatte sie nicht gerechnet. John wusste, dass er Susanne schon wieder überrascht hatte und er wusste auch, dass er, sollte er Susanne mal ersetzten müssen, gleich zwei Personen anstellen müsste. So gesehen waren zehn Prozent mehr Lohn ein Klacks. Und er hatte noch genügend Luft, um ihr Ende Jahr eine größere Provision auszubezahlen. Das würde dann die nächste Überraschung geben.
Susanne trat ganz nahe an John Etter heran und umarmte ihn fest. John musste seine Muskeln fest anspannen, sonst hätte ihm Susanne wohl sämtliche Knochen im Oberkörper gebrochen. Dankbarkeit hatte viele verschiedene Gesichter und Susanne zeigte, dass sie John Etter sehr dankbar war.
„Ist schon gut, Susanne, bitte bring mich nicht um, sonst ist es vorbei mit Lohn …“
„Entschuldige, aber bei dir fühle ich mich zum ersten Mal im Geschäftsleben geschätzt. Bisher wurde ich immer nur als durchschnittliche Mitarbeiterin angesehen, auch wenn ich immer mehr als Andere arbeitete. Ich wurde immer gehänselt und bei dir, bei dir fühle ich mich wohl.“ Susannes Gesichtsfarbe änderte sich sofort in Hochrot. „Ich, -- ich, äh, ich meine natürlich auf rein geschäftlicher Ebene. Nicht, dass du meinst, ich will etwas von dir. Sicher nicht. Versprochen.“
„Schon gut, schon gut, liebe Susanne. Ich verstehe dich schon richtig.“
Susanne verlies das Büro so flink und leise, wie sie es betreten hatte und John Etter wunderte sich, wie sie das mit dem Gewicht überhaupt konnte. Er lächelte selbstzufrieden, denn er wusste, zufriedene Mitarbeiter waren die besten Mitarbeiter und er wusste auch, dass Susanne für ihn die beste Mitarbeiterin war, die er sich wünschen konnte.
Nun musste er sich aber sputen, stand auf und fuhr mit leicht überhöhter Geschwindigkeit zu den Höllgrotten, wo Gabriel Galliker ihn bereits erwartete.
Sie betraten die Höllgrotten und Galliker führte John direkt zum Ort des Geschehens. An einem Punkt in der Höhle war ein Hinweisschild. Hier war der Hinweis auf die Fässer, die weit hinten lagerten.
„Hier hat der Grottenwart den Brief gefunden und ihn mit zurück in den Kiosk genommen. Auf dem Umschlag stand in großen Lettern geschrieben: AN DIE FIRMA ETTER . Er hat mich informiert und ich habe einen Mitarbeiter geschickt, um den Brief abzuholen. Als ich ihn öffnete, habe ich unserer Sekretärin gleich den Auftrag gegeben, die Polizei zu informieren. Da dies mir etwas zu lange dauerte, habe ich Sie informiert. Etwas über einen zweiten Brief habe ich erst jetzt erfahren.“
Gabriel Galliker und John Etter machten sich kurze Zeit später ins Restaurant Höllgrotten auf. Die Sonne versank gerade hinter dem Wald und sie setzten sich draußen hin. Weil es an diesem Abend viele Gäste hatte, verschob John den Plan, gleich mit den Wirtsleuten und Angestellten zu sprechen. Vielleicht hatte jemand vom Restaurant etwas beobachtet.
Sein Handy vibrierte lautlos. Das war üblich um diese Tageszeit, hatte er es so eingestellt, dass es nach zweiundzwanzig Uhr auf lautlos eingestellt war. Aline schickte ihm eine SMS.
Was für schöne Rosen! Vielen Dank, lieber John. Du bist großartig! Hast du Zeit?
Das Nachtessen war vorüber und John Etter wusste alles, was er zu wissen hoffte. Er kannte den Namen der Wirtin und wusste, dass eine Übergabe des Restaurants an eine neue Wirtin geplant war. Dies würde die junge blonde Dame sein, die sie zuvorkommend bedient hatte. Freundlich verabschiedete er sich von Gabriel Galliker und der Gerantin. Draußen auf dem Parkplatz rief er keine fünf Minuten nach der SMS Alina an.
„Hallo Alina. Einen guten Tag gehabt?“
„Es geht. Geschäfte halt, aber das ins Büro zurückkommen hat mir den ganzen Tag gerettet. Vielen Dank nochmals.“
„Gern geschehen“, antwortete John trocken.
„Wo bist du?“
„Ich fahre gerade von den Höllgrotten nach Hause.“
„Kommst du noch auf einen Drink bei mir vorbei?“, fragte Alina und John war froh, dass sie fragte.
„Gerne, ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.“
„Nimm den hinteren Eingang beim Haus, dann kommst du direkt in meinen Wohnteil. Mein Vater muss ja nicht geweckt werden, nur weil ich Besuch habe.“
„Verstanden, bis bald.“
John fuhr verträumt in Richtung Schmidvilla. Vor dem Haus angekommen schaute er nochmals in den Rückspiegel. „Doch, doch, das geht schon“, war sein Urteil über sich selbst.
Er ging auf den Hintereingang zu und die Türe war nur angelehnt. Von drinnen hörte er Musik, trat ein und ging den Gang entlang zum mit Kerzenschein erhellten Wohnzimmer.
„Hallo Fremder“, begrüßte ihn Alina mit zwei Gläsern Rotwein in den Händen.
„Hallo schöne Frau“, antwortete John Etter.
„Komm her zu mir“, forderte sie ihn auf und kam ihm auch ganz langsam etwas entgegen.
John tat, was ihm geheißen und als sie sich ganz nahe standen, stellte Alina die Gläser auf den Kaminsims neben sich, nahm mit beiden Händen Johns Kopf und zog ihn zu sich hin.
John ließ es geschehen. Schon lange hatte er keine Frau mehr geküsst. Die Letzte war Erika Rogenmoser und das war schon zwei Jahre her. Und an die Jahre mit Nicole wollte er auch nicht mehr denken.
Die Augen geschlossen, ließ er Alina machen. Er wusste, dass er heute nicht mehr nach Hause kommen würde.
Sie ließ ihn los, nahm die Gläser und reichte ihm eins. Nachdem sie sich auf das bequeme Sofa gesetzt hatten und die Gläser nach einigen Gesprächen und Küssen geleert waren, stand Alina auf.
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