Am Eingang stoße ich mit einem beleibten Herrn zusammen, der vielleicht einen Limoncello zu viel zu sich genommen hat. Er muss sich mit beiden Händen an mir festhalten, und ich greife automatisch zu, ihn wieder in die Vertikale zu bringen.
"Scusi, Signore", strahlt er mich an und versucht sich an mir vorbeizuschieben. "Americano?" Er babbelt noch ein paar Sätze auf Neapolitanisch und richtet seine Schritte durch die kleine Caféterrasse zur Straße hin. Harry reißt Gelsomina die Leine aus der Hand, springt dem Dicken ans Hosenbein und verbellt ihn, als sei er der Briefträger.
Da schrillen bei mir die Alarmglocken. Mit zwei Sprüngen bin ich hinter dem Mann und drehe ihm mit einem Judogriff den Arm auf den Rücken. Seit meiner Schulzeit habe ich das nicht mehr gemacht, aber es funktioniert noch.
"Scusi, Signore", sage ich ganz freundlich und verstärke leicht den schmerzhaften Druck auf seinen Arm. Dann weiter auf Englisch, schließlich bin ich hier ja ein Americano.
"Sie geben mir jetzt sofort meine Geldbörse zurück, sonst wandern wir zusammen um die Ecke zur Polizei."
Das Polizeirevier ist wirklich zwanzig Schritte um die Ecke, und ich habe vorhin mehrere Polizisten gesehen, die vor dem Eingang ein paar Züge frischen Rauch schnappten. Ausgerechnet Italien hat neuerdings das strikteste Tabakverbot Europas. Der Dicke steht jetzt wieder auf ganz festen Füßen. Er weiß, wann er verloren hat, fummelt unter seinem Hemd und zieht das kleine, flache Lederetui hervor, das sich vor zwei Minuten noch in meiner Hosentasche befunden hatte.
"Scusi, Signore", sagt er wieder. "Un errore. Buona Serata." Cool ist er ja, das muss ihm der Neid lassen. Ein Irrtum sei das gewesen, sagt er, wünscht mir noch einen schönen Abend und wandert gemächlich einer Gruppe vermutlich deutscher Touristen hinterher, die nebenan vor dem Palast ihre Erinnerungsfotos schießen wollen.
Gelsomina kichert immer noch vor sich hin.
"Das hat noch nie ein Tourist fertiggebracht. Einen Taschendieb auf frischer Tat zu ertappen und sogar sein Portemonnaie zurückzubekommen! Wie hast du das nur so schnell bemerkt?"
"Es war in der Tat Harry, der aufgepasst hat. Ich habe mich benommen wie ein Idiot. Den Mann hätte ich noch viel schneller durchschauen müssen als Harry das tat. Er rempelt mich an, er sorgt dafür, dass meine Hände zu tun haben und dass meine Aufmerksamkeit abgelenkt ist. Der grobe Körperkontakt überdeckt die leichte Berührung seiner flinken Finger. Das habe ich alles von einem Profi gelernt, als ich das letzte Mal hier bei einem Film mitarbeitete. In einer Schlüsselszene musste er bei einer Cocktailparty die Gäste und Gästinnen um ihre Brieftaschen und möglichst viele Diamanten erleichtern. Er war so schnell, dass ich seine Hände nie im richtigen Augenblick fotografieren konnte. Wir mussten die Aktion unzählige Male wiederholen, und ich benutzte schließlich eine Kamera, die sonst nur bei Autorennen oder Raketenstarts eingesetzt wird, mit zwölf Aufnahmen pro Sekunde. Die Erinnerung schoss mir auf einmal durch den Kopf, aber Harry war noch eine Sekunde schneller."
Zurück zum Hotel, jetzt auf dem kürzesten Weg. Wir sind todmüde, Harry und ich, aber um nicht unsozial zu erscheinen, lade ich Mina, so heißt sie unterdessen, noch auf einen Drink in die dämmerige Bar ein, wo man in den tiefen braunen Ledersesseln auf Nimmerwiedersehen versinken kann. Colin sitzt noch an der Theke und schließt sich uns unaufgefordert an. Er verfolgt wohl noch weitergehende gesellschaftliche Absichten. Mit dem AssistenzChef der Rezeption haben wir geklärt, dass Gelsomina Zugang zu meiner Suite erhält. Das zieht zwar einige Augenbrauen hoch, dieser kleine Hund dient zweifellos nur als Alibi, aber ich mache mir über meinen Leumund keine Sorge, und für Gelsomina, meint sie, kann ein schlechter Ruf nur Gutes bewirken. Wir werden morgen früh um halb neun abgeholt, und sie wird mit Harry zum Dreh kommen. Er scheint sie zu mögen, denn er lässt sich willig kraulen. Vielleicht benutzt sie einen ähnlichen Duft wie Sally?
* * *
Wir schlafen schlecht und sind um vier Uhr morgens hellwach. Als wir später gerade nach unten gehen wollen, klingelt das Telefon. Der Empfangschef, oder auch der Unterempfangschef vom Dienst, berichtet, im Foyer erwarteten mich eine junge Dame und ein Herr vom englischen Generalkonsulat. Er sagt inglese, englisch, obwohl es korrekterweise britisch heißen müsste. Die junge Dame bedarf keiner Erklärung, aber was will der Vertreter Ihrer Majestät von mir?
Gelsomina sieht strahlend aus in ihrem geblümten Sommerkleid. Sie nimmt mir Harrys Leine aus der Hand und will sofort mit ihm auf die Straße, aber ich schicke die beiden erst einmal in den Frühstücksraum. Der Engländer stellt sich mit Namen vor, den ich beim Hinhören schon wieder vergessen habe, und nennt seine Funktion in der diplomatischen Hierarchie. Früher hätte man ihn wohl einfach Kulturattaché genannt, aber heutzutage gibt es viel feinere Unterschiede wie Erster oder Zweiter Sekretär, Legationssekretär im Wartestand und wer weiß was. Jedenfalls hat er was mit Kultur zu tun. Ich lade ihn ein, einen Kaffee mit uns zu trinken, und nach einem Blick auf Gelsominas Rücken akzeptiert er mit einer gewandten kleinen Verbeugung. Er lässt es bei einem Caffè Latte bewenden, während ich Mina über Harrys Bedürfnisse instruiere und mich dann selbst am Büfett bediene. Endlich sitzen wir alle, und er kann zur Sache kommen.
"Der Generalkonsul hat von Ihrer Anwesenheit erfahren und würde es als große Ehre betrachten, wenn Sie heute Abend sein Gast sein könnten. Die Zeit ist zu kurz, Ihre Anwesenheit anzukündigen, aber es wäre dann ein Empfang unter einem Doppelstern. Der zweite ist Lady Simone Battle. Sie wird morgen die Premiere von Lucia di Lammermoor dirigieren." Der Erste oder Zweite Sekretär schiebt mir einen Umschlag aus schwerem gehämmerten Papier mit tief eingeprägtem britischem Wappen über den Tisch.
Nun gibt es auch daheim in Vancouver jedes Jahr einige Opernvorstellungen, aber Donizetti hat meines Wissens noch nie auf dem Programm gestanden und Simone Battle wird uns wohl auch in Zukunft nicht beehren. Ja, die würde ich schon mal gern kennen lernen.
"Ich komme gerne, aber ich müsste auch Harry und Signorina Esposito mitbringen. Sie ist gewissermaßen Harrys Mary Poppins und kümmert sich um ihn, wenn ich arbeiten muss."
Wie lange dauert wohl das professionelle Training junger Diplomaten? Er verzieht keine Miene, das heißt, er verzieht sie sehr wohl, zum großen Diplomatischen Strahlegesicht. Aber selbstverständlich sei Harry willkommen, er sei sogar ausdrücklich in die Einladung eingeschlossen. Die Gäste und auch der Generalkonsul selbst möchten ihm unbedingt vorgestellt werden. Schließlich sei Harry eine Berühmtheit und für die Weltgeschichte schon jetzt so bedeutend wie die kapitolinischen Gänse, die einst Rom vor dem Ansturm der Gallier retteten. Und Signorina Esposito: selbst wenn sie nicht die magischen Kräfte von Mary Poppins besäße (offenbar hat er in seiner Kinderzeit einmal den Film gesehen oder gar das Buch gelesen), sie würde ein weiterer Stern des Empfangs. Bedauerlich nur, dass man sie nicht schon früher eingeladen hatte, aber dies solle bestimmt nicht das letzte Mal sein. Wenn man ihm so zuhört, wird der Empfang im britischen Generalkonsulat heute Abend mit Stars und Sternchen heller funkeln als die ganze Milchstraße. Gelsomina wird wohl wie ein Komet mit einem Schweif aus diplomatischen und sonstigen Partikeln durch die Säle ziehen. Hat eigentlich heute schon jemand Colin Aberthau gesehen?
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Читать дальше