Der Autor
Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse, geboren 1955, verheiratet, zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Studium der Psychologie, Philosophie, Psychopathologie und Musik an den Universitäten Aachen und Bonn sowie an der Musikhochschule Köln. Promotion im Fach Psychologie mit der Note »Summa cum laude et egregia« an der Universität Bonn, Habilitation im Fach Psychologie an der Universität Heidelberg. 1993–1997 Gründungsdirektor und -professor des Instituts für Psychologie der Universität Greifswald, seit 1997 Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Zahlreiche internationale und nationale Auszeichnungen, darunter 1st Presidential Award of the International Association of Gerontology. Bundesverdienstkreuz, persönlich verliehen durch den Bundespräsidenten Prof. Köhler für die Beiträge zur Generationenforschung und zur internationalen und nationalen Politikberatung. 1999–2002 Mitglied der vom ehemaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, einberufenen Kommission zur Erstellung des International Plan of Action on Aging, 2010–2012 Koordinator im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, seit 2003 Vorsitzender der Altersberichtskommission der Bundesregierung, seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates. Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück im Jahre 2010.
Andreas Kruse
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040586-8
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Das vorliegende Buch möchte dazu anregen, über die Gestaltung des Lebensendes nachzudenken – und zwar aus fachlicher, aus ethischer und aus persönlicher Sicht. Dabei ließ ich mich von der Annahme leiten, dass das Lebensende als eine Zeitspanne zu verstehen ist, in der das Leben zu einem vom sterbenden Menschen bewusst angenommenen Abschluss gelangen kann – kann und nicht muss, weil ein derartiger Abschluss an zahlreiche innere und äußere Bedingungen geknüpft ist, die in diesem Buch ausführlich erörtert werden. Sie zeigen in ihrer Gesamtheit, wie sehr die Entwicklung und Verwirklichung einer Abschiedskultur sowohl als Aufgabe des Individuums und seines Nahumfeldes als auch als Aufgabe der Gesellschaft zu begreifen ist. Der Gesellschaft kommt hier die Verpflichtung zu, Ressourcen bereitzustellen, die sicherstellen, dass alle Menschen (unabhängig von ihrem Stande) einen Ort und eine Art fachlicher und menschlicher Begleitung finden, die sie in die Lage versetzen, sich auf das eigene Sterben einzustellen und ihr Leben auch am Lebensende zu gestalten. Und auch dann, wenn es Menschen nicht vergönnt ist, ihr Leben am Lebensende bewusst zu gestalten, sind sie auf einen Ort sowie auf eine Begleitung angewiesen, an dem und in der sie tiefen Respekt vor ihrer Existenz sowie ein hohes Maß an Solidarität erfahren. Dies bedeutet, dass die gesellschaftliche und kulturelle Auseinandersetzung mit Verletzlichkeit, Endlichkeit und Vergänglichkeit von Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit bestimmt sind – eine Forderung, die in ihren Konsequenzen die Identität der an der Versorgung beteiligten Disziplinen berührt: Eine gute Versorgung bedeutet eben nicht nur die Wiederherstellung von körperlicher und seelischer Gesundheit, sondern mit Blick auf unser Thema auch, den Menschen am Ausgang seines Lebens würdevoll und engagiert zu begleiten, diesen Ausgang fachlich und ethisch verantwortungsvoll zu gestalten; sich dabei nicht allein an fachlichen Standards, sondern immer auch an individuellen Kriterien einer »guten Behandlung« orientierend. Inwieweit ist also sichergestellt, dass sich das Individuum auch in seiner größten Verletzlichkeit vollumfänglich geachtet fühlt?
Dieses Thema einer hochgradig individuellen Versorgung am Lebensende wird in Zukunft noch deutlich an Gewicht gewinnen – schon allein deswegen, weil schwerkranke und sterbende Menschen in vielen Fällen nicht mehr auf jenes Ausmaß an familiärer Unterstützung zurückgreifen können, wie dies heute noch der Regelfall ist. Zudem führt uns die wachsende Anzahl hochbetagter Menschen einmalmehr die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz vor Augen: denn trotz aller seelisch-geistigen Entwicklungsschritte, die Menschen auch im hohen Alter tun können, sind die körperlichen, nicht selten auch die kognitiven Grenzen in dieser Lebensphase unübersehbar. Besonders sichtbar werden Verletzlichkeit und Vergänglichkeit im Falle der Demenz. Diese stellt den Kranken selbst, sein Nahumfeld, schließlich unsere Gesellschaft und Kultur vor besondere Anforderungen. Ich widme diesem Thema ein eigenes Kapitel, weil die Begleitung demenzkranker Menschen nicht nur erweiterte fachliche Anforderungen an die Palliativversorgung stellt, sondern auch besondere ethische Reflexionen erfordert. Zugleich gibt uns die Betrachtung demenzkranker Menschen einen Impuls, über unser Verständnis von »Person« nachzudenken und für die Zeichen der Personalität »im Anderen« auch dann empfänglich zu sein, wenn diese nur noch in Ansätzen erkennbar oder spürbar sind. Wie wichtig ist es, dass wir gerade in diesen Situationen einen Resonanzboden für das Erleben und Verhalten demenzkranker Menschen bilden!
Wie wichtig ist aber auch eine Anthropologie, deren Ausgangspunkt der bzw. die Andere bildet, eine Anthropologie also, die sich vom Antlitz der bzw. des Anderen berühren lässt, um hier mit Emmanuel Lévinas zu sprechen, dessen Philosophie vielen Stellen dieses Buches als Rahmen dient.
Eine Ethik, die mich persönlich leitet und in dem Buch ausführlich zu Wort kommt, verdankt sich Albert Schweitzer. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist für mich essenziell, wenn ich zu dem (und nicht auf den) schwerkranken und sterbenden Menschen blicke. Um hier aber nicht falsch verstanden zu werden: Ich wäre der Letzte, der die Entscheidung eines Schwerkranken oder Sterbenden, mit Hilfe eines anderen Menschen seinem Leben ein Ende zu setzen, verurteilen würde; wer dies tut, hat von der Not, in der eine solche Entscheidung vielfach getroffen wird, nichts verstanden. Doch begreife ich mich selbst als einen Menschen, der sich angesichts dieser Not zuerst und vor allem vor die Frage gestellt sieht: Wie können wir diese lindern? Welche Aufgabe richtet diese Not an mich? Ich versuche – symbolisch gesprochen – mit einer Störfrage an den Anderen, an die Andere zu gelangen: Lassen sich nicht doch Lebensbindungen finden und im täglichen Leben verwirklichen, die dazu motivieren, trotz aller als unabänderlich erlebten Grenzen »Ja« zum Leben zu sagen? An verschiedenen Stellen des Buches gehe ich wiederholt auf das Changieren des Individuums zwischen Grenzen einerseits, Möglichkeitsräumen andererseits ein.
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