Was folgt aus diesen Aussagen?
Die Erfassung der psychischen Situation eines schwerkranken oder sterbenden Menschen ist ebenso komplex wie die Erfassung der körperlichen Situation. Der Blick ist auf zahlreiche Merkmale zu richten, zu denen vor allem die verschiedenen Bereiche der kognitiven Leistungsfähigkeit, das Erleben der aktuellen Situation, die Versuche zur Verarbeitung der Grenzsituation, die Motivlage und Werthierarchie, schließlich die Lebensbewertung, die Lebensbindung und der Lebensrückblick gehören. Hinzu tritt die Analyse der Fähigkeit, der Bereitschaft und des Verlangens, mögliche Perspektivenwechsel vorzunehmen, so zum Beispiel von der eigenen Person auf nahestehende Menschen, von der aktuellen Situation auf die Vergangenheit und Zukunft, von der körperlichen Dimension auf die seelisch-geistige, von der irdischen Dimension auf eine kosmische.
Dabei ist es notwendig, die psychische genauso wie die körperliche Situation als einen Prozess, also als Ergebnis früherer und als Ausgangspunkt weiterer Veränderungen, zu begreifen und dies heißt: sich auf mögliche Veränderungen (intraindividuelle Variabilität) in den einzelnen Merkmalen einzustellen und mögliche (innere wie äußere) Einflüsse auf diesen Veränderungsprozess zu erfassen (Diehl & Wahl, 2020). Veränderungen können dabei eine Abnahme von Leistungsfähigkeit und Lebenszufriedenheit, eine Zunahme von Belastungen und Konflikten ebenso beschreiben wie eine Zunahme an Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft, auch eine Zunahme an Widerstandsfähigkeit (Resilienz) oder eine Zunahme an bewusster innerer Auseinandersetzung mit der bestehenden Grenzsituation, verbunden mit einer Zunahme an Lebenswissen (Wettstein, Wahl, Siebert et al., 2019; Potter, Drewelies, Wagner et al., 2020; Staudinger, 2020). Und schließlich können sich in diesem Prozess die oben genannten Perspektiven verändern: So kann zum Beispiel eine zunehmende Abkehr von anderen Menschen ebenso eintreten wie eine zunehmende Anteilnahme an deren Lebenssituation. Erst eine derart differenzierte, prozessorientierte Betrachtung des psychischen Bereichs versetzt Mitglieder des Versorgungsteams in die Lage, schwerkranke oder sterbende Menschen mitfühlend, anteilnehmend, unterstützend, verstärkend und motivierend zu begleiten.
Mit dem sozialen Bereich sind zunächst Autonomie, soziale Integration und soziale Teilhabe des schwerkranken oder sterbenden Menschen angesprochen: Inwieweit ist in den verschiedenen Phasen der Krankheit – bis hin zum eintretenden Tod – sichergestellt, dass Patientinnen und Patienten in ihrer Autonomie (Willensfreiheit und Selbstverantwortung) respektiert und nicht beschnitten werden? Inwieweit ist gewährleistet, dass sich die Bezugspersonen (die persönlichen wie die fachlichen) intensiv und nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen, die Werthierarchie, die Motive, die Bedürfnisse und Präferenzen schwerkranker oder sterbender Menschen auch dann zu erfassen, wenn die Artikulation von Werten, Motiven, Bedürfnissen und Präferenzen erschwert oder gar nicht mehr möglich ist? In diesem Falle gewinnt die mimische und gestische Ausdrucksanalyse mehr und mehr an Bedeutung; dies ist zum Beispiel bei einer weit fortgeschrittenen Demenz der Fall. Inwieweit sind die persönlichen wie fachlichen Bezugspersonen bereit, durch ihr Verhalten, Entscheiden und Handeln den Patientinnen und Patienten Sicherheit zu geben, angenommen und geachtet zu sein, nicht alleine gelassen zu werden, Verständnis in Bezug auf die hohe Fluktuation von Kontaktwünschen (zum Beispiel im Sinne eines Wechsels von stärkerem Rückzug nach innen und vermehrter Öffnung nach außen) zu finden, Anregungen und Hilfen in Bezug auf eine persönlich sinnerfüllte und stimmige Tagesgestaltung zu erhalten, schließlich jene medizinische und pflegerische Versorgung, jene psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung zu erhalten, die im individuellen Falle geboten sind und von ihnen gewünscht werden?
Schon diese Fragen veranschaulichen, wie wichtig es ist, sich bei der gedanklichen und emotionalen Vorwegnahme der persönlichen Lebenssituation in schwerer Krankheit oder im Prozess des Sterbens mit dem Thema zu beschäftigen, in welchem sozialen Umfeld man versorgt, unterstützt und begleitet werden will, wie die Sorgestrukturen beschaffen sein sollten, wenn aufgrund schwerer Erkrankung oder des herannahenden Todes eine umfassende Angewiesenheit auf Betreuung besteht. In öffentlichen Diskussionen neigen wir dazu, mit der Begleitung in schwerer Krankheit oder im Prozess des Sterbens primär das Thema der Selbstbestimmung zu assoziieren, hingegen weniger oder gar nicht das Thema der sorgenden Gemeinschaft, in der wir leben, mit der wir uns austauschen, von der wir begleitet werden möchten (Heller & Wegleitner, 2017; Klie, 2015). Dies ist eine bedeutsame Aufgabe der gedanklichen und emotionalen Vorbereitung auf die persönliche Lebenssituation in schwerer Erkrankung oder im Prozess des Sterbens: Nämlich bewusst der Frage nachzugehen, mit wem man zusammenleben, von wem man begleitet und betreut, von wem man gepflegt (bzw. nicht gepflegt) werden möchte (Dörner, 2007; Gronemeyer & Heller, 2014; Keil & Scherf, 2016). Allein die Beschäftigung mit der Frage, wie man in diesen gesundheitlichen Grenzsituationen die eigene Autonomie bewahren und was man schon heute tun kann, um dieses Ziel zu erreichen, erscheint entsprechend zu eng.
Mit dem sozialen Bereich ist weiterhin die soziale Lebenslage des Menschen angesprochen, die dessen Handlungsspielraum, das heißt, die objektiv gegebenen Möglichkeiten und Grenzen der Situationsgestaltung, auch im Krankheits- und Sterbensprozess mitbestimmt. Die soziale Lebenslage umfasst Merkmale wie Bildungsstand, Einkommen, Wohnqualität, Versorgungs- und Dienstleistungsangebot im näheren Wohnumfeld, Größe und Zusammenhalt des sozialen Netzwerks. Auch die Zugänglichkeit einer anspruchsvollen medizinischen und pflegerischen Versorgung ist als bedeutendes Merkmal der sozialen Lebenslage zu werten, da diese in hohem Maße von den materiellen Ressourcen und Bildungsressourcen eines Menschen bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die innere Verarbeitung des herannahenden Todes nicht allein als ein individuelles Geschehen begriffen werden darf, sondern auch als ein soziales Geschehen verstanden werden muss, oder anders ausgedrückt: Nicht allein die körperliche und die seelisch-geistige Verfassung bestimmen mit, wie die eigene Endlichkeit erlebt und innerlich zu verarbeiten versucht wird, sondern auch die sozialen Bedingungen, unter denen die Person lebt – wobei die sozialen Bedingungen auch die Dienst- und Versorgungsleistungen mitdefinieren, die der schwerkranke oder sterbende Mensch erwarten kann und schließlich in Anspruch nimmt. Angehörige mittlerer, vor allem oberer Sozialschichten können auf ein ganz anderes Spektrum palliativmedizinischer und -pflegerischer Maßnahmen zurückgreifen als Menschen aus unteren Sozialschichten. Und es kommt hinzu: Die soziale Lebenslage bestimmt langfristig das Anspruchsniveau eines Menschen, das heißt, dessen Erwartungen (und Hoffnungen) mit Blick auf den Umfang und die Qualität der medizinisch-pflegerischen Versorgung mit. Patientinnen und Patienten, die sich schon in vorangegangenen Lebensphasen mit einem kleinen Spektrum an medizinischen und pflegerischen Leistungen begnügt haben, werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann tun, wenn sie mit einer schweren oder zum Tode führenden Erkrankung konfrontiert sind.
Die große Bedeutung der sozialen Lebenslage für die Lebensqualität eines sterbenden Menschen hat der Heidelberger Internist Herbert Plügge – der auf einen großen palliativmedizinischen Erfahrungsschatz blicken konnte – schon zu Beginn der 1960er Jahre deutlich hervorgehoben. Er gab zu bedenken, dass sich auch im Prozess des Sterbens soziale Ungleichheiten widerspiegeln, die – je nach Richtung – die psychische Entwicklung unterstützen oder erschweren können. Eine in dieser Hinsicht wichtige Aussage von Herbert Plügge, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat, lautet:
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