Zur stark ausgeprägten Frailty tritt häufig die Sarkopenie (Abnahme von Muskelmasse und Muskelkraft) hinzu, die von alten Menschen als besondere körperliche und emotionale Belastung erfahren wird (Cruz-Jentoft, Bahat, Bauer et al., 2019). Die Sarkopenie lässt sich bei über 30 Prozent der ab 80-jährigen Frauen und Männer beobachten (Buess & Kressig, 2013). Der Gewichtsverlust ist dabei mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden (Sieber, 2014). Gerade bei schwerkranken oder sterbenden alten Menschen bildet die Sarkopenie – neben einer stark ausgeprägten Frailty – ein häufig anzutreffendes Syndrom, das in dieser Gruppe durchaus auch als ein Leitsyndrom eingestuft werden kann.
Was folgt aus diesen Aussagen?
Diese zeigen uns, dass sich im hohen Alter der gesundheitliche Zustand nicht plötzlich, abrupt, sondern vielmehr kontinuierlich fortschreitend verschlechtert, was sich auch mit dem subjektiven Empfinden von Patientinnen und Patienten deckt, die häufig davon sprechen, dass es immer weniger werde, dass sie sich einer letzten Grenze näherten, dass die Phasen der Erschöpfung in immer kürzeren Abständen aufträten und dabei immer länger anhielten. Patientinnen und Patienten erfahren unmittelbar das Leben zum Tode hin, ein Leben, das Möglichkeiten der Selbstgestaltung und Weltgestaltung immer weiter verringert. Damit machen auch die für die Denomination der Palliativmedizin und Palliativpflege konstitutiven Begriffe »Pallium« (Mantel) bzw. »palliare« (den Mantel umlegen) einmalmehr Sinn. Denn es geht ja in der Tat darum, körperlich hochgradig geschwächte Patientinnen und Patienten zu schützen – vor bestimmten Symptombildungen ebenso wie vor weiteren Erkrankungen.
In einer für die medizinisch-pflegerische Versorgung am Lebensende wichtigen Studie wurde zwischen drei Krankheitsverläufen (»trajectories«) in der letzten Lebensphase differenziert (Murray, Kendall, Boyd et al., 2005):
1. Tumorerkrankungen: diese sind zunächst durch eine relativ lange Zeit mit vergleichsweise geringen Einschränkungen im Alltag charakterisiert; innerhalb weniger Monate treten körperlicher Abbau, Funktionsverlust und Tod ein;
2. Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen: diese erstrecken sich über mehrere Jahre mit mehr oder minder stark ausgeprägten Einschränkungen im Alltag; gelegentlich treten akute Verschlechterungen ein, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen; die sich anschließende Erholung erreicht das frühere Funktions- und Leistungsniveau nicht mehr;
3. Frailty: vielfach assoziiert mit kognitiven Störungen und einem über mehrere Jahre bestehenden, kontinuierlich steigenden Niveau der Hilfsbedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit.
Wie die Autoren dieser Studie hervorheben, sind für den Tod alter Menschen nur in geringem Maße die Tumorerkrankungen verantwortlich und in sehr viel stärkerem Maße Herz-, Lungen- und Nierenerkrankungen oder eine stark ausgeprägte Frailty, verbunden mit Sarkopenie.
Dies zeigt noch einmal, wie wichtig das vertiefte Verständnis eines kontinuierlichen Übergangs von einer chronisch progredienten Erkrankung zu einem präfinalen und schließlich einem finalen Zustand für die fachlich und ethisch überzeugende therapeutische und pflegerische, aber auch für die psychologische, soziale und seelsorgerische Begleitung ist. Denn es geht um die Frage, wann therapeutisch-rehabilitative Ziele und Schritte zugunsten palliativer Ziele und Schritte verringert und schließlich ganz aufgegeben werden sollten. Darüber hinaus ist es bei vielen Patientinnen und Patienten geboten, trotz Einleitung palliativmedizinischer und -pflegerischer Schritte therapeutische Ziele aufrechtzuerhalten, wenn nämlich zu der – zum Tode führenden – Grunderkrankung weitere akute Erkrankungen hinzutreten. Und schließlich kann es geboten sein, trotz einer primär palliativen Orientierung Elemente einer Rehabilitation oder einer rehabilitativen Pflege in den medizinisch-pflegerischen Versorgungsansatz zu integrieren, um die Selbstständigkeit und Mobilität, zudem kognitive Funktionen der Patientinnen und Patienten zu fördern, womit man dazu beiträgt, dass ein weitgehend oder zumindest in Teilen selbstgestaltetes Sterben möglich wird. Dabei sei konzediert: Ein weitgehend oder zumindest in Teilen selbstgestaltetes Sterben beschreibt einen Idealzustand, der nur bei einem Teil der Patientinnen und Patienten – und zudem nur über einen begrenzten Zeitraum – verwirklicht werden kann. Und doch wäre es ein Fehler, würde man von vornherein eine rehabilitative bzw. eine rehabilitativ-pflegerische Komponente aus dem palliativen Versorgungskonzept ausschließen. Denn dies bedeutete, dem Streben der Patientinnen und Patienten nach Erhaltung eines ihren Ressourcen entsprechenden Grades an Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und sozialer Teilhabe nur noch eine untergeordnete Bedeutung beizumessen und damit deren Werthierarchie zu übergehen.
Im Kontext einer solchen Diskussion erweist sich das Frailty-Konzept als wertvoll, weil mit diesem ausdrücklich Rehabilitationspotenziale angesprochen sind: Inwieweit können durch eine vorsichtige, an den Ressourcen der Patientinnen und Patienten orientierte Aktivierung Verbesserungen in einzelnen körperlichen Merkmalen erzielt werden, die sich positiv auf die allgemeine Leistungsfähigkeit des Organismus wie auch auf die Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und soziale Teilhabe auswirken?
Im psychischen Bereich finden sich eine Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit (in der Literatur mit dem Begriff des terminalen Rückgangs umschrieben: Hülür, Wolf, Riese et al., 2019; Wilson, Yu, Leurgans et al., 2020), bisweilen auch eine emotionale Erschöpfung (die sich vor allem in einem Interessenrückgang sowie in Niedergeschlagenheit äußert) sowie ein phasenweise auftretender Rückzug von anderen Menschen (Stolberg, 2017). Doch unterscheiden sich schwerkranke und sterbende Menschen erheblich in der Art und Weise, wie sie im präfinalen und finalen Stadium die Erkrankung und den herannahenden Tod erleben und diesen innerlich zu verarbeiten versuchen (in der Literatur mit dem Begriff coping umschrieben); diese stark ausgeprägten Unterschiede machen eine einheitliche Charakterisierung des Verarbeitungsprozesses unmöglich. Die Forschung konzentriert sich deshalb auf die Analyse der verschiedenartigen Verarbeitungsprozesse, wie sie sich in der Gruppe schwerkranker oder sterbender Menschen finden lassen. Sie geht nicht von einer für alle schwerkranken oder sterbenden Menschen charakteristischen Form und Entwicklung der Verarbeitung aus, sondern untersucht gezielt die interindividuellen und intraindividuellen Unterschiede in der Art der Verarbeitung sowie jene (körperlichen, psychischen, sozialen und kulturellen) Merkmale, die Einfluss auf die Art der Verarbeitung nehmen (Maxfield & Bevan, 2019). Dabei wird auch der Qualität sowohl der medizinischen als auch der pflegerischen Versorgung, zudem der Qualität der psychologischen, der sozialen und der seelsorgerischen Begleitung große Bedeutung beigemessen.
Die Verarbeitung der schweren Krankheit bzw. des herannahenden Todes ist zudem als ein Prozess zu begreifen, in dem sich erhebliche Veränderungen im Erleben und Verhalten des schwerkranken oder sterbenden Menschen ergeben können. In diesem Prozess lassen sich bei der einen Person Entwicklungs- und Reifungsprozesse (im Sinne einer gelungenen Auseinandersetzung) beobachten, bei der anderen hingegen ein immer deutlicher hervortretendes Scheitern der Verarbeitung. Das bekannteste »Phasenmodell« der Verarbeitung eigener Endlichkeit verdanken wir der Allgemeinmedizinerin und Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, die in ihrem 1969 erschienenen Buch »On death and dying« (deutsch, 1971: »Interviews mit Sterbenden«) zwischen fünf aufeinander folgenden Phasen unterscheidet (1. Nicht-wahrhaben-Wollen; 2. Zorn und Ärger; 3. Verhandeln; 4. Depression; 5. Akzeptieren). Ich werde an späterer Stelle ausführlich auf dieses Phasenmodell eingehen. Es sei schon hier festgestellt, dass bei allem Wert der Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross für die Entwicklung einer fachlich wie ethisch überzeugenden, interdisziplinären Sterbebegleitung deren Annahme einer allgemeingültigen Sequenz von Verarbeitungsphasen (ob diese bis zur fünften Phase durchlaufen wird oder nicht) empirisch nicht gestützt werden konnte; wird dieser unkritisch gefolgt, so kann sie die praktische Arbeit mit Schwerkranken und Sterbenden in Teilen sogar erschweren.
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