Weitere Merkmale des psychischen Bereichs, denen für das Verständnis des Erlebens und Verhaltens schwerkranker und sterbender Menschen große Bedeutung zukommt, sind Lebensbewertung und Lebensrückblick – zwei Merkmale, denen ich mich in dem Buch en detail widmen werde. Mit Blick auf die Lebensbewertung sind Arbeiten des US-amerikanischen Altersforschers M. Powell Lawton wichtig, der auf umfassender empirischer Basis den Nachweis erbringen konnte, dass sich in der aktuellen Lebensbewertung (»valuation of life«) auch persönliche Lebensbindungen widerspiegeln, die basaler (sensorischer, alltagspraktischer) wie auch ideeller (geistiger) Natur sein können (Lawton, Moss, Winter et al., 2002; Gitlin, Parisi, Huang et al., 2016; Lang & Rupprecht, 2019). Solche Bindungen bilden ihrerseits das Ergebnis seelisch-geistiger Ordnungen des Menschen, die sich im Lebenslauf ausgebildet haben und bis zum Lebensende fortwirken, ja, vielleicht gerade in der Grenzsituation einer schweren oder zum Tode führenden Erkrankung bewusst (»thematisch«) werden.
Die große Bedeutung des Lebensrückblicks für das Lebensgefühl von Menschen, die im hohen Alter stehen oder die mit dem herannahenden Tod konfrontiert sind, wurde vor allem von dem US-amerikanischen Psychiater Robert Butler (1927–2010) herausgearbeitet. Der erste Beitrag, den dieser im Jahre 1963 in der Zeitschrift Psychiatry zum Thema »Lebensrückblick« veröffentlicht hat (Butler, 1963), beeinflusst die Diskussionen in Gerontologie und Psychotherapie bis heute. Da in diesem Buch noch ausführlich auf den Lebensrückblick und die Beiträge von Robert Butler eingegangen werden wird, seien hier nur einige wenige Aussagen aus dem genannten Beitrag angeführt. Den Lebensrückblick im Alter wie auch im Falle der Konfrontation mit dem herannahenden Tod versteht Robert Butler als einen natürlichen, als einen universellen (das heißt, prinzipiell bei allen Menschen auftretenden) Prozess. Dieser zeichnet sich durch zunehmende Bewusstwerdung früherer Erlebnisse und Erfahrungen, vor allem aber durch das Thematisch-Werden ungelöster Konflikte aus. Dabei ist bei dem weit überwiegenden Teil der Menschen von der Fähigkeit und Bereitschaft auszugehen, die wiederauflebenden Erinnerungen wie auch die Konflikte zu bearbeiten und – so eine Formulierung von Robert Butler – in die Persönlichkeit zu integrieren (Butler, 1980). Probleme mit dem Lebensrückblick stellen sich vor allem bei jenen Menschen ein, die aufgrund einer eher narzisstischen Grundhaltung nicht fähig sind, persönliche Schuld oder Reue im Hinblick auf jene Stationen der persönlichen Biografie zu empfinden, in denen man anderen Menschen geschadet oder eigene Entwicklungsmöglichkeiten ungenutzt gelassen hat. Hier übrigens weist das Konzept des Lebensrückblicks Schnittmengen mit jenem der Ich-Integrität auf, das Joan und Erik Homburger Erikson in ihre Entwicklungstheorie integriert haben (Erikson, Erikson & Kivnick, 1986): die Herstellung von Ich-Integrität bildet danach eine zentrale psychologische Aufgabe des höheren und hohen Alters. Sie beinhaltet auch den Rückblick auf das Leben und die Fähigkeit, das eigene Leben nicht nur im Lichte positiv bewerteter, sondern auch negativ bewerteter, konfliktbesetzter Erlebnisse und Erfahrungen anzunehmen (Hendricks, 2019; Jeffers, Hill, Krumholz et al., 2020; van der Kaap-Deeder, Soenens, van Petegem et al., 2020).
Der Lebensrückblick, der im Prozess des Sterbens einmalmehr an Bedeutung gewinnt, wurde von Bronnie Ware, einer australischen Palliativpflegerin, in zwei Büchern anschaulich dargestellt; diese Bücher haben auch in Deutschland weite Verbreitung gefunden. Das erste Buch mit dem Titel »Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden« (Ware, 2012/2013), gründet auf zahlreichen Gesprächen von Bronnie Ware mit sterbenden Menschen, die zu Hause gepflegt wurden. Sie legt dar, wie wichtig die Reue und das Bedauern im Erleben vieler sterbender Menschen sind. Fünf Themen, um die sich die Reue und das Bedauern zentrierten, wurden von Bronnie Ware angeführt: »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.« – »Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.« – »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.« – »Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.« – »Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.« In dem zweiten Buch mit dem Titel »Leben ohne Reue. 52 Impulse, die uns daran erinnern, was wirklich wichtig ist« (Ware, 2014) leitet die Autorin aus dem von den Sterbenden vorgenommenen Lebensrückblick und den Inhalten der Reue sowie des Bedauerns Anregungen für ein persönlich sinnerfülltes, stimmiges Leben ab: Die Umsetzung dieser Anregungen soll letztlich dazu führen, am Ende des Lebens gelassen auf dieses zurückblicken und ohne Reue aus diesem gehen zu können. Unter den Anregungen (Impulsen) finden sich solche wie: »Veränderungen annehmen«, »flexibel sein«, »Freiheit«, »Dankbarkeit«, »Mut zur Aufrichtigkeit«, »Entscheidung zum Glücklichsein«, »vom richtigen Zeitpunkt«, »auf die Worte achten«. Die Arbeiten von Bronnie Ware mögen zwar in der Hinsicht kritisch betrachtet werden, dass in ihnen die persönliche – wenn auch auf zahlreichen Gesprächen beruhende – Sichtweise der Autorin dominiert; und entsprechende kritische Anmerkungen sind auch verschiedentlich vorgebracht worden. Doch wird in diesen Arbeiten, und dies macht sie aus meiner Sicht so wertvoll, auch ein Perspektivenwechsel sichtbar, der von nicht wenigen schwerkranken und sterbenden Menschen vorgenommen wird, wenn im Gespräch mit ihnen Fragen adressiert werden, die einen derartigen Perspektivenwechsel nahelegen. Was ist hier gemeint? Bronnie Ware hat Schwerkranke und Sterbende zu verschiedenen Aspekten des Lebensrückblicks befragt (Reue und Bedauern mit Blick auf das eigene Verhalten und Handeln im Lebenslauf sind dabei zwei bedeutsame Aspekte) und dies mit dem Hinweis darauf, von ihnen lernen, an ihren Erfahrungen teilhaben zu wollen. Wie sie an mehreren Stellen ihrer beiden Bücher hervorhebt, hätten die befragten Frauen und Männer keinerlei Probleme gehabt, auf entsprechende Fragen zu antworten. Im Gegenteil: Sie hätten in diesen Fragen Anstöße zur (kritischen) Selbstreflexion gesehen und weiterhin eine Möglichkeit, einen anderen Menschen zu bereichern. Die Bereicherung des anderen Menschen liegt ja eben darin, dass man diesem Hinweise darauf gibt, welche Dinge er in seinem Leben besonders beachten sollte, um am Ende des Lebens relativ frei von Reue und Bedauern zu sein.
In diesem Perspektivenwechsel kommt das mitverantwortliche Leben zum Ausdruck, das ich als durch das Bedürfnis geprägt verstehe, sich vom anderen Menschen berühren zu lassen, sich mitverantwortlich für dessen aktuelle Lebenssituation oder dessen Lebensweg zu fühlen, sich als Teil von Gemeinschaften zu begreifen, die man durch das eigene Engagement fördern möchte, wie auch als Teil der Gesellschaft und der Schöpfung, für deren weitere Entwicklung man Mitverantwortung trägt (Kruse, 2016). In der altgriechischen Dichtung findet sich ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Perspektivenwechsel, für diese mitverantwortliche Lebensführung: Die auf den Geschichtsschreiber Herodot von Halikarnassos (ca. 490/480–430/420 v. Chr.) zurückgehende Aussage: »Leiden sind Lehren« (griechisch: pathemata mathemata) wurden von Dionysios von Halikarnassos (ca. 54–7 v. Chr.) wie folgt weitergeführt: »Meine Leiden werden zu Lehren werden für die anderen« (griechisch: pathemata paideumata genesetai tois allois). Damit wird die potenzielle Vorbildfunktion von Menschen, die in der Grenzsituation schwerer oder zum Tode führender Krankheit stehen, umschrieben.
Es sei noch ein weiteres Thema angesprochen, das mit Blick auf die psychische Situation im Prozess des Sterbens große Bedeutung gewinnt: Es ist dies die Erfahrung eigener Verletzlichkeit (Vulnerabilität) im Prozess einer schweren Erkrankung und des Sterbens, die im positiven Falle in der Erfahrung aufgehen kann, Teil eines umfassenden Ganzen zu sein, das über die materielle Existenz hinausgeht, diese aber hält oder trägt (Kruse, 2017). Die bereits genannten Autoren Joan und Erik Homburger Erikson charakterisieren diesen Prozess als Integration von Verletzlichkeits- und Transzendenzerfahrungen (Erikson, 1998; Tornstam, 2011; Jeffers, Hill, Krumholz et al., 2020). Die gelungene Verarbeitung der gerade im hohen Alter zunehmenden Verletzlichkeit gründet vor allem auf der Ausbildung eines neuartigen Vertrauens: und zwar sowohl in die eigenen Kräfte als auch in die (persönlichen und fachlichen) Bezugspersonen. Die in den ersten Lebensjahren dominierenden Aufgaben – nämlich Vertrauen in die engsten Bezugspersonen (»Urvertrauen«) sowie in die eigenen Kräfte (»Autonomie«) auszubilden, stellen sich auch am Ende des Lebens, wenn die körperliche und kognitive Verletzlichkeit subjektiv immer deutlicher erfahrbar werden.
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