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Im Hotel erwartet uns Gelsomina, Harrys ständige Begleiterin für unsere Zeit in Neapel. Ja, sie heißt tatsächlich so, wie die unsterbliche, leider schon lange verstorbene Giulietta Masina in Fellinis Film La Strada. Sie sieht aber gar nicht aus wie die echte Gelsomina. Eher wie die junge Sofia Loren: schön, aber natürlich nicht so schön wie Sally. Keine Frau der Welt kann Sally in puncto Schönheit das Wasser reichen, Punktum. Gelsomina besitzt den selben breiten, sinnlichen Mund wie ihr Wunschbild, die großen Augen mit einer Iris in der Farbe von dunklem Bernstein. Die Augenbrauen sind durch geschicktes Nachziehen geschwungen wie auf manchen alten Fotos von Sofia, die Haare kurz, nicht bis zu den Schultern reichend, ihre Farbe ein ins Schwarze gehendes Dunkelbraun wie Sofia in Hausboot. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie in dem Film auch diese kleine Perlenkette trägt, aber Gelsomina hat ihn sicherlich viele Male gesehen und würde die Inkarnation nicht durch falsche Zutaten verzerren. Und so eine kleine Perlenkette, wie man sie früher von Oma zur Firmung bekommen hat, passt ja ebenso gut zu einem vorgespiegelten Kindermädchen im Film wie zu einer TeilzeitHundegouvernante in Neapel. Es fehlt nur noch, dass sie anfängt zu singen: Prego, prego, anybody may go, dann fühle ich mich endgültig auf einer Zeitreise, ein halbes Jahrhundert zurück in die Glanzzeit von Hollywood.. Leider hatte ich nie Gelegenheit, mit Sofia zu arbeiten, dafür bin ich etwas zu spät ins Filmgeschäft gekommen.
Offenbar bin ich nicht der Erste, dem diese Ähnlichkeit auffällt. Nein, beteuert Gelsomina mit traurigem Augenaufschlag, sie ist nicht mit Sofia verwandt, auch wenn sie es gern wäre. Sie stammt auch nicht aus Pozzuoli, jetzt schon beinahe ein Randviertel im Süden von Neapel, sondern aus Caserta, der nächsten richtigen Stadt in Richtung Norden. Vielleicht lässt sie doch einmal einen Gentest machen, nur zur Sicherheit. Aber wie könnte sie dafür an ein Haar von Sofia kommen? Oder auch nur eine Augenbraue? Arme Gelsomina! Andererseits, solange ihr die Wissenschaft nicht die Realität bescheinigt, kann sie träumen. Ein ganzes Leben lang.
Aber selbst wenn sie nur durch Augenschein verwandt sind, Gelsomina ist stolz auf ihre Sofia. Die filmt zwar nicht mehr, aber jetzt hat sie der Mafia den Kampf angesagt. Oder der Camorra, wie sie in Neapel heißt. Sie hat allen Grund dazu. Mindestens einmal im Jahr versinkt diese Stadt in Unrat, Abfall, Schleim und Gestank. Jedesmal dann, wenn die Bewohner der umliegenden Orte im Stil französischer Bauern auf die Barrikaden gehen, mit denen sie die Müllfuhrwerke fernhalten wollen. Es ist wieder und wieder ein verzweifelter Aufschrei, den die Regierung nach angemessener Frist mit der Ernennung eines Müllbeauftragten beantwortet. Nach einigen Tagen, schlimmstenfalls Wochen, müssen die Blockierer aufgeben und ihrem Broterwerb nachgehen, der Müllbeauftragte schreibt einen Bericht, und die Camorra lässt den Dreck wieder an die alten Plätze kippen oder eröffnet auf irgendeines Bauern Rübenacker eine neue Deponie.
Aus ihrer Handtasche kramt Gelsomina ein nicht mehr ganz frisches Zeitungsblatt hervor. Die viel gelesene, linke Repubblica zeigt, wie sich vor dem angeblichen Geburtshaus von Sofia Loren der Unrat türmt. "Ich habe in Neapel in schwierigen Nachkriegszeiten gelebt", beteuert die Diva. "Es waren harte Jahre, doch die Hoffnung war stark und lebendig. Ich frage mich, ob wir heute noch Recht auf Hoffnung haben. Ich bin von dieser Katastrophe in Zeiten des Friedens erschüttert. Ich sehe im Fernsehen die Bilder dieser Müllkrise und kann die Tränen nicht zurückhalten." Ob das die Bosse rührt, oder gar den Ministerpräsidenten? Das Geschäft mit dem Dreck ist viele Millionen wert. Wie man hier schon seit Kaiser Neros Zeiten weiß: Geld stinkt nicht.
"Meine Freunde und ich wollen eine Aktionsgruppe bilden", sinniert Gelsomina. "Vielleicht will Sofia unsere Ehrenpräsidentin werden. Dann könnten wir richtige Proteste organisieren."
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Harry muss noch ein paar Schritte laufen. Das gibt mir einen guten Vorwand, Gelsominas Eignung als HundeKindermädchen zu testen und etwas mehr über sie zu erfahren. Gelsomina studiert an der Università Federico Secondo, benannt nach jenem StauferKaiser, der in Neapel so allgegenwärtig ist wie Karl der Große in Aachen. Die Süditaliener betrachten ihn ganz als den Ihren, wie die Franzosen seinen Vorgänger aus dem Norden. Er ist auf alle Fälle viel populärer als die Könige, die noch vor hundert Jahren Italien und damit auch Neapel regierten. Die spanischen und bourbonischen Könige aus der Zeit nach Columbus kennt ohnehin kaum einer mehr mit Namen, nur das Castel Nuovo ist im Volksmund noch nach den Herrschern aus Anjou benannt: Maschio Angiouino.
Wir enden auf dem Schlossplatz, der seit einiger Zeit Piazza Plebiscito heißt, Platz der Volksabstimmung. Ist es nicht schrecklich, wie auf der ganzen Welt die schönsten Straßen und Plätze politisiert und damit banalisiert werden? Straße der Republik, Boulevard des ersten April (weiß der Himmel, was da stattgefunden hat), Platz der Verkündung der neuesten Verfassung . Früher hat man die großen Straßen nach großen Städten oder großen Persönlichkeiten benannt, Pariser Platz oder Goethestraße, und die kleineren nach dem täglichen Leben, Buschwindröschenweg, Hufschmiedgasse oder dergleichen. Da wusste man noch, woran man war und musste nicht alle paar Jahre neue Namen lernen.
Das Wunderbare an diesem Platz, na gut, bleiben wir erst einmal bei dem Namen Plebiscito, das Schöne ist, dass darauf kein einziges Auto steht. Er liegt vor uns, wie seine Erbauer sich das einst gedacht hatten, monumental und respekteinflößend. Und an der anderen Seite das Schloss.
"Hundertfünfzig Jahre hat man am Palazzo Reale gebaut", weiß Gelsomina. Erst um 1850 ist er fertig geworden. Und hier, der zweite von links, das ist Federico Secondo, Friedrich II, dem heute noch das Herz der Napolitaner gehört."
In die Fassade sind acht Nischen eingearbeitet, von denen jede ein überlebensgroßes Standbild enthält. Sie repräsentieren die Dynastien, die seit dem 12. Jahrhundert das Königreich Neapel beherrscht haben, angefangen von den Normannen über Friedrich bis Victor Emanuel II.
"Und dort drüben der Palazzo an der Ecke, das ist der Sitz des Admirals. Dort hat sich Admiral Nelson in seine Lady Hamilton verliebt, und heute regiert dort der Herr über die NatoMittelmeerflotte."
Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt und kann mir nicht vorstellen, wozu eine NatoFlotte im Mittelmeer gut sein soll. Um afrikanische BoatPeople abzufangen, ehe sie die Grenzen der Europäischen Union erreichen?
"Sie sollen uns vor den Sarazenen schützen", behauptet Gelsomina mit gespieltem Ernst. "Und das ist das Teatro di San Carlo. Rossini hat hier zehn Opern komponiert. Mozart war übrigens auch in Neapel und hat sich zu Cosi fan tutte inspirieren lassen, wusstest du das?"
Nein, das wusste ich nicht, aber auch vor und nach ihm war wohl jeder, der auf sich hielt oder von dem seine Mitmenschen etwas hielten, wenigstes einmal in Neapel, Goethe zum Beispiel, hat es sogar zu einer Marmortafel gebracht, und die heutigen Neapolitaner sind so stolz auf ihre klassischen Besucher wie die modernen Ägypter auf ihre alten Pyramiden. Wir sollten langsam umkehren, Harry ist genug gelaufen.
"Trinken wir noch einen Kaffee im Gambrinus?"
"Aber nur einen schnellen Espresso."
Das Café kenne ich noch vom letzten Mal, als ich hier war. Wer hier nicht wenigstens einmal einen Kaffee trinkt, ein Törtchen verzehrt und die Belle-Epoque-Innendekoration bewundert, der ist kein seriöser Tourist. Natürlich ist mir auch die Umgebung nicht ganz unbekannt, aber Gelsominas Erzählungen lassen die Farben intensiver leuchten, bevölkern die Bühne mit lebendigen Menschen, auch wenn die längst tot sind.
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