Er schlug die Decke vom Eingang zurück und stand in der Morgendämmerung des anbrechenden Tages. Ein leichter Nebel hing über dem See, die Luft roch klar und frisch. Am Ufer kniete er sich nieder, um seinen Durst zu stillen. Beim ersten Schluck durchzuckte ihn die Erinnerung an die junge Frau mit den dunklen Augen, die in seinen Träumen bei ihm gelegen hatte. Forschend sah er über die Wasseroberfläche, doch sie lag still und reglos da wie ein mattes Schild, und verschwand nach wenigen Schritten im Nebel. Er trank, so viel er konnte, und verließ den See.
Den ganzen Tag ging er, ohne eine Pause einzulegen. Das Unterholz wurde teilweise so dicht, dass er immer wieder neue Wege suchen musste, denn Pfade gab es in diesem abgelegenen Teil des Waldes nicht mehr. Bei Einbruch der Dunkelheit, als Farold sich gerade ein Nachtlager suchen wollte, zog ihm der Duft eines Feuers in die Nase. Zuerst glaubte er an einen Irrtum, doch der Wind trug einen immer deutlicheren Geruch heran. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass in unmittelbarer Nähe das Fleisch eines Tieres über dem Feuer briet.
Er schlich von Baum zu Baum, bis er den hellen Schein eines Lagerfeuers ausmachen konnte. Raue Stimmen drangen zu ihm hinüber und er sah zwei Dutzend Männer um ein großes Feuer sitzen. Sie trugen verschlissene, wild zusammengewürfelte Kleidung und waren mit Messern, Hiebschwertern und Speeren bewaffnet. Es roch nach Fleisch und Bier, worauf Farolds Bauch einen leisen, knurrenden Ton von sich gab, wie um ihn daran zu erinnern, dass er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Farold besah sich die Männer genauer, bei denen es sich zweifellos um Räuber und Töter handelte. Er wusste, dass jeder freie Mann das Recht hatte, diese Wesen zu erschlagen, wo immer er sie fand, aber das war jetzt ein Schicksal, das er mit ihnen teilte. Er war nicht besser als sie, war auf ihre Stufe gesunken. Ein Neiding.
Ruhig trat er hinter dem Baum hervor und ging auf das Lager zu. Schon nach wenigen Metern bemerkte ihn der erste der Männer und griff nach seinem Schwert. Die anderen Männer, eben noch am Trinken und Lachen, schienen schlagartig nüchtern zu werden. Überall wurden Waffen gezogen. Sie sprangen auf und umringten den Fremden, der regungslos in ihrer Mitte stand.
Farold spürte, wie ihn die Männer von oben bis unten musterten und einzuschätzen versuchten. Er wusste, dass man ihm die Übernachtungen im Wald ansehen musste, und kam zu dem Schluss, dass sein Äußeres diesen Männern sehr ähnelte.
Ein hünenhafter, breiter Mann trat auf Farold zu, dessen roter Bart ihm bis auf den dicken Bauch reichte. Seine kleinen blauen Augen blinzelten bösartig, als er sich vor ihm aufbaute.
»Ich würde sagen, du bist in schlechte Gesellschaft geraten!«, sagte der Rotschopf. Ohne Vorwarnung versetzte er Farold einen kräftigen Schlag ins Gesicht verpasste.
Von der Wucht des Schlages ging Farold in die Knie, und als er wieder klarer wurde, hatte man ihm sein Sax abgenommen. Er spürte den scharfen Geschmack von Blut im Mund und spuckte aus, bevor er sich mühsam erhob.
»Seht nach, ob er wertvolle Sachen bei sich hat!«
Raue Hände durchwühlten seine Kleidung, stießen ihn unsanft hin und her. Farold ließ die Prozedur über sich ergehen, denn wenn ihn sein Heil verlassen hatte, gab es nichts mehr für ihn zu hoffen. Schließlich ließen die Hände von ihm ab. Den silbernen Kreuzanhänger unter seinem breiten Gürtel fanden sie nicht.
»Er hat nichts, Brandolf«, sagte einer der Männer.
Der Mann, den man Brandolf nannte, trat noch einen Schritt näher an ihn heran, so dass Farold seinen leicht säuerlichen Schweißgeruch wahrnehmen konnte.
»Du kommst als Gast ohne Gastgeschenk«, sagte der Hüne leise, der Farold um zwei Köpfe überragte. »Was sollte uns davon abhalten, dich hier auf der Stelle zu töten und Wodens Raben zum Fraß zu überlassen ...«
Farold sah ihm ruhig in die Augen. Er spürte keine Angst, nur eine Gleichgültigkeit, die die Männer mit Mut verwechseln konnten. »Die Nornen haben unsere Schicksalsfäden schon längst gesponnen, Brandolf. Ich bin Farold, meine Sippe hat mich verstoßen und es gibt nicht mehr viel zu hoffen für mich auf dieser Welt. Nehmt mich in eure Gemeinschaft auf oder tötet mich gleich, es ist mir einerlei.«
Brandolf trat einen Schritt zurück und ging langsam um ihn herum. »Ein Ausgestoßener ... Ein Ausgestoßener möchte sich uns anschließen ...« Dann hob er sein Schwert und setzte es Farold an die Kehle. Farold spürte die scharfe Schneide an seiner Haut, die ihm leicht ins Fleisch ritzte, sah aber weiterhin ruhig geradeaus.
»Bist du ein brauchbarer Kämpfer, Mann, den man Farold nennt?«
»Gebt mir mein Sax und ich werde es euch beweisen.«
Brandolf gab ein tiefes Lachen von sich. »Klein bist du, Farold, wie eine Katze unter Hunden, kein Mann hier ist schmächtiger als du. Du scheinst mir keine große Hilfe im Kampf zu sein.«
»Eine Katze hat scharfe Krallen, und mehr als einmal sah ich sie einen Hund in die Flucht schlagen!«
Erneut lachte Brandolf, diesmal etwas lauter. Farold konnte spüren, dass sein Leben auf dem Prüfstand stand. Seine Worte würden überzeugen oder ihm auf der Stelle den Tod bringen. Bei solch einem ruhm- und kampflosen Tod würde keine Walküre ihn nach Walhall begleiten.
»Du redest wie ein Heiling und doch bist du ein sippenloser Mann. Ich werde dich jetzt nicht töten, Farold, aber meine Augen und die meiner Männer werden wachsam auf dir ruhen.« Langsam senkte Brandolf sein Schwert. »Gebt ihm sein Sax. Sein Waffenarm soll uns morgen Verstärkung sein. Wenn er besteht, soll er bleiben, findet er den Tod, lassen wir ihn liegen.«
Mit diesen Worten wandte sich Brandolf um und ging zum Lagerfeuer zurück. Einer der Männer reichte ihm sein Hiebschwert, dann wandten auch sie sich wieder ihrem Bier und Essen zu und ließen ihn unbeachtet stehen.
Naglfar
Die kleine Schlafnische, von kaum mehr als einem Öllämpchen erhellt, hüllte die alte Frau in mattes Dunkel. Den Umhang fest um ihre Schulter geschlungen, stand sie vor ihrer Schlafstatt und starrte an die Wand. In der großen Halle war es ruhig und doch konnte sie die Unruhe der Menschen spüren, die trotz der späten Stunde keinen Schlaf fanden.
Friedegard fuhr sich mit ihren knotigen Fingern über ihr Gesicht, als wollte sie ein Spinngewebe fortwischen, und erschauderte. Hinter dem dicken Vorhang, der ihre Nische verhängte, lag Isbert auf dem Tisch in der großen Halle.
Sie hatten ihn gebettet, wie es sich für einen Mann gebührte, gewaschen und in eine prächtige Tunika gekleidet, die Hände auf der Brust verschränkt. An seiner Seite befand sich ein fremdes Sax in Ermangelung eines eigenen.
Farold, dachte sie, der sich jetzt mit Isberts Sax irgendwo in den Wäldern versteckte.
Sie konnte die körperliche Gegenwart ihres toten Sohnes spüren, die wie ein schwerer Vorwurf auf ihr lastete. Vor ihrem inneren Auge sah sie Isbert, wie er in ihre Kammer stürzte, seine hellen Augen voller Schrecken, und es hatte nicht den geringsten Zweifel in ihrem Herzen gegeben, dass sie ihren Sohn vor allem Unheil bewahren würde, kostete es, was es wolle. Ihr Leben lang, das schon um so viel länger als dass ihres Mannes Theodard währte, hatte sie ein ehrenvolles Leben geführt. Und doch hatte sie gestern Abend eine Entscheidung getroffen, die alles auslöschte, was je gewesen war.
»Es brauchte nur eine Tat dazu«, murmelte sie. »Die Ehre ist beständig von der Unehre bedroht.«
Ihre eigenen Worte kamen ihr fremd vor. Ihr brennender Blick heftete sich auf ihre Finger, die hager und kalt waren. Es klebte Blut an ihren Händen. Den ganzen Tag war Arbogast nicht von der Seite seines Bruders gewichen. Ohne etwas zu essen, saß er dort und starrte in das Herdfeuer, bis die Sonne unterging und die meisten Gäste aufgebrochen waren. Rolant musterte Arbogast, doch sprach auch er nicht viel und schärfte seine Waffen, bis das Geräusch des Wetzsteins die ganze Halle ausfüllte. Rolant würde sofort nach Isberts Beerdigung aufbrechen, wenn Arbogast seine Entscheidung endlich fällen würde. Die Ungeduld hallte in dem scharfen Geräusch von Stein auf Eisen nach. Seine Frau kümmerte sich um Aleke, deren Klagerufe am Mittag zu ihnen herüberklangen, was Rolant dazu bewog, seine Waffen noch lauter zu bearbeiten. Schwert, Messer, Speer und Bogen wurden kontrolliert, bis alles seiner Zufriedenheit entsprach. Fredegard stellte fest, dass er selbst nach dem Tod von Theodard nicht in so düsterer Stimmung gewesen war. Hier lag die Sache anders. Eine Neidingstat war in ihrer aller Leben getreten und hatte es unwiderruflich verändert. So tüchtig und tapfer Rolant auch war, jetzt flackerte sein Blick, wenn er zur Isbert hinübersah. Friedegard kannte diesen Blick. Es war die Angst eines Mannes, von der Unehre nach unten gezogen zu werden, bis alles, was er je getan hatte, nichts mehr zählte und sich in Schande und Siechtum auflöste. Es gab nichts Schlimmeres für einen Mann, und sie trug daran die Schuld. Sie hatte ihre Sippe verraten.
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