Manfred beugte sich über Isberts Körper. »In der Dunkelheit durch Wälder streifen. Bei Nacht einen Menschen erschlagen. Keine Spuren für das menschliche Auge hinterlassen. Ihr wisst, was das heißt!«
Die Worte des Schmieds hingen wie Unheil in der Luft. Arbogast sah, wie einige der Anwesenden die Halle verließen. »Eine rasche Zunge spricht sich oft Unheil an!«, sagte Arbogast.
»Was wissen wir schon von Farold?«, fragte Rolant. »Wir retteten ihn vor Räubern im Wald, seine Herkunft ist nicht sicher. Es war Theodards Entscheidung. Du weißt es. Du warst dabei.«
Zwei Zeugen haben es gesehen, dachte Arbogast, es ist schwer von der Hand zu weisen. Das Wort Rolants wog viel, ein verlässlicherer Zeuge ließe sich kaum anführen, um eine Tat zu beschwören.
»Wir wissen nichts über Farolds Wesen«, fuhr Rolant fort, als Arbogast zögerte. »Ein Wolf kann mit dem Schwanze wedeln, und wird doch kein Hund!«
»Es war eine Neidingstat«, sagte Manfred. »Es lässt sich nicht absprechen!«
Die Worte trafen Arbogast wie ein Schlag ins Gesicht. Er ging langsam um den Tisch herum, die gehörten Aussagen wägend. Was würde Theodard jetzt tun? Sein Vater war immer ein besonnener Mann gewesen, freigiebig zu seinen Freunden und unnachgiebig den Feinden gegenüber. Doch nun? Wenn Rolant und Manfred recht hatten, war die Entscheidung, Farold aufzunehmen, eine schlechte gewesen.
Fredegard humpelte vor, ein Bein nachziehend. Der Feuerschein flackerte auf ihrer faltigen Haut. »Unheil traf unser Geschlecht! Was zögerst du? Bist du nicht der Sohn deines Vaters?«
Arbogast blieb neben Isberts Leichnam stehen. »Es scheint mir sonderbar.«
Rolants Stimme erklang scharf in der Halle. »Du siehst es: Dort liegt der Körper deines Bruders, noch warm … Erschlagen von dieser Schlange, die wir aufnahmen.«
»Lug und Trug ist das Wesens des Neidings.« Manfred nahm den Blick nicht vom Gesicht des toten Gesippten.
Arbogast, der dem hünenhaften Schmied auf der anderen Seite des Tisches gegenüberstand, schüttelte den Kopf. »Es ist niemand ein Geächteter, solange eine Schar von Verwandten willens ist, ihn zu halten. Noch ist die Entscheidung nicht gefallen.«
Fredegard begann zu lachen, ein kalter freudloser Laut, wie ein Wintersturm, der um die Langhütte heult. Arbogast zuckte mit keiner Miene, aber er hatte seine Mutter noch nie so lachen gehört. »Du warst immer schon der kräftigste meiner Söhne gewesen, doch niemals schnell von Entschluss. Isberts Verstand war klar wie das Wasser im Bach, rasch und beweglich …« Fredegard verstummte und Arbogast schien es, als würde sie den Anblick Isberts meiden. Plötzlich ergriff sie seine Schulter und sah ihm fest in die Augen. »Blut ist geflossen und kann nur von Blut gereinigt werden. Isbert, dein Bruder, dein Gesippter, wurde erschlagen und wir müssen unsere Ehre zurückholen, und sei es durch den Tod eines Gesippten!«
Rolant blickte Arbogast eindringlich an: »Ich sah die Tat! Nur ein Neiding erschlägt einen Verwandten. Wir müssen ihn aus unserem Kreis herausreißen, bevor wir alle zur Unehre hinabsinken.«
»Schau!«, sagte Fredegard, »Sieh! Hier ist die Wunde!«
Plötzlich trat sie dicht an ihn heran, ihr Kopf reichte ihm nur bis zur Brust und ihre Augen glühten. Ihre Worte waren ein heiseres Flüstern. »Bring mir Farolds Kopf! Ich will in seine toten Augen sehen.«
Auf der Flucht
Farold erwachte, weil etwas sein Gesicht berührte. Blinzelnd schlug er die Augen auf, ohne zu wissen, wo er war. Er lag zusammengerollt unter den niedrigen Ästen einer Eiche. Ein leichter Regenschauer ging von einem grauen Himmel nieder und vereinzelte Tropfen fielen von den Ästen herab. Als er sich mit seiner Hand über das feuchte Gesicht fahren wollte, hielt er inne und betrachtete das getrocknete Blut an seinen Fingern.
Die Erinnerung an die Nacht kam mit einer Wucht, die ihm die Luft aus den Lungen presste. Bilder flammten vor seinen Augen auf. Die reglose Gestalt Sarhilds am Ufer des Flusses. Ihre gebrochenen Augen. Die Würgemale an ihrem bleichen Hals. Die Lippen, die er geküsst hatte. Farold drehte sich auf die Seite und schrie seinen Schmerz in das Gras, wühlte seine Stirn in den Boden, suchte die Dunkelheit. Er schrie und schrie, bis er nicht mehr konnte und erschöpft liegen blieb.
Zeit verging, ohne ihm bewusst zu werden. Er lag einfach da und überließ sich dem Wald. Sollten Tiere kommen und an ihm nagen, er würde sich nicht bewegen. Der Geruch nach feuchter Erde umgab ihn. Die Kälte des Bodens zog in seine Glieder, machte den Stoff seiner Kleidung klamm. Alle Kraft war aus ihm gewichen. Immer wieder sah er die Szene am Bach vor sich, der leblose Körper Sarhilds, das plötzliche Erscheinen von Fredegard, Rolant und Isbert. Das Gesicht seines Bruders, als er die Haarsträhne in die Luft hielt und ein eigenes Sax seine Eingeweide aufschlitzte. Die letzten Worte … Was hatte Isbert gesagt? Irgendwas von einem Schuh, er erinnerte sich nicht mehr. Eine schwarze Flut stieg in Farold auf. Er hatte den Töter Sarhilds den Lebensfaden durchschnitten, von seiner Hand war derjenige gestorben, der ihm das Wichtigste genommen hatte. Es war keine Freude in ihm, nur eisige Genugtuung, der der Hass auf dem Fuß folgte. Und mit dem Hass kehrte auch die Kraft in seinen Körper zurück.
Langsam rührte Farold sich, hob den Kopf und setzte sich auf. Der Regen hatte aufgehört und der Himmel war klar. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten und die Schatten wurden länger. Wo war er?
Farold sah sich um und erkannte eine alte Linde in der Nähe. Er war in der Nacht überraschend weit gekommen. In der Nähe floss der Bach vorbei, der auch an ihrem Gehöft vorbeiführte. Der Bach, an dem Sarhild gestorben war.
Farold schwankte und stützte sich an dem Baumstamm ab. Er zwang sich dazu, die Augen zu öffnen und sich nach Verfolgern umzusehen. Arbogast würde die Tötung seines Bruders nicht ungerächt lassen. Von nun an war er ein Geächteter, den jeder erschlagen durfte, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Keine Rache und kein Wehrgeld folgte seinem Tod, keine Sippe schützte ihn. Er war allein, die Gemeinschaft der Menschen hatte sich hinter ihm geschlossen. Sobald der Racheeid geschworen war, würde alles Menschliche von ihm abfallen, keine Halle ihn aufnehmen, keine Speise ihn stärken und kein kreisendes Horn ihn erreichen. Er war nun ein Neiding!
Farold lauschte auf verdächtige Geräusche in der Nähe, doch war nichts Ungewöhnliches zu hören. Ein blutiges Sax lag einige Schritte entfernt im Gras. Es war die Waffe von Isbert, seinem Sippenbruder, an dessen Händen das Blut von Sarhild klebte. Mit der er Isbert erschlagen hatte. Kein Heil würde dieses Sax ihm bringen, aber nun, da er dem Schutz der Sippe entbehrte, brauchte er diese Waffe zum Überleben.
Widerwillig nahm er die feuchte Klinge auf und wog das schlichte, einschneidige Hiebschwert in seiner Hand. Rolant hatte ihnen ihre Schwerter gegeben, als sie alt genug waren, Farold kannte dieses Sax gut. Häufig hatte er es an der Seite von Isbert gesehen. Es fühlte sich merkwürdig an, es unter den Gürtel zu schieben, als wäre es sein eigenes.
Langsam ging er in Richtung des Baches, der in einiger Entfernung durch das hohe Gras floss.
Die Bilder überschlugen sich in ihm, und immer wieder sah er die gebrochenen Augen Sarhilds, die in den Nachthimmel starrten. Er hatte ihren Töter erschlagen, Isbert sein Leben genommen. Er würde es immer und immer wieder tun, bis zur Zeit des Weltenbrandes. Aber was war wirklich passiert in dieser Nacht?
Farold kniete sich am Ufer nieder und wusch sich die Hände in dem kühlen Wasser. Er musste sich konzentrieren, wenn er am Leben bleiben wollte. »Eines nach dem anderen!«, sprach er zu sich und sah zu, wie das getrocknete Blut von seinen Fingern allmählich verschwand. »Beginne am Anfang!«
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