Michael J. Awe
DER NEIDING
Historischer Roman
Inhaltsverzeichnis
Der Junge
Rauchnacht
Verrenkte Glieder
Adoption
Irminsul
Narben
Die alte Halle
Sommersonnenwende
Der Lebensbaum
Kreuz und Schwert
Am Bach
Neidingswerk
Gezählte Wunden
Auf der Flucht
Naglfar
Der Überfall
Auf dem Gräberfeld
Brandolfs Lager
Marklohe
Dietlind
Rückkehr
Besatzungsrecht
Der Schwur
Blutige Schatten
Am See
Abschied und Aufbruch
Hitze
Der Heerbann
Wernulfs Hof
Kloster Fulda
Bernward
Am Süntel
Die Spur
Schande und Zweifel
Der Schatten des Kreuzes
Froederik
Die Aufständischen
Bleicher
Teutomars Weg
Grenzgebiet
Die Zwingburg
Waschung
Die Herde
Ein Meer aus Häusern
Berengars Entscheidung
Hof Ortwald
Winter
Die Tunika
Gemalte Gedanken
Wort gegen Wort
Gänsekiel und Hand
Gelsa
Dankrads Falle
Ein Plan wird geschmiedet
Blutiger Schnee
Die Pilger
Das hölzerne Kreuz
Berengars Heer
Kloster Lorishaim
Die neblige Ebene
Erscheinungen
Abschied
Bei Hofe
Die Haarsträhne
Tiefe Fluten
Das Schicksal der Einherier
Fremdes Licht
Der Armreif
In tiefer Nacht
Farolds Plan
Schatten der Vergangenheit
Nächtliche Audienz
Fulda
Hunger
Die Jagd
Der Racheschwur
Hinter dicken Mauern
Die gezogene Klinge
Fragen
Auge um Auge
Die Königin
Dinge der Nacht
Am letzten Tag
Die Worte des Alten
Der Weg
Gewoben
Ein Töter in der Dunkelheit
Das Lied der Schlacht
Die Taufe
Der Mönch
Glossar
Der Junge
Sachsen, 771 A.D.
Die drei kauerten am Feuer, Schneeflocken wirbelten um sie herum.
»Wir hätten nicht mehr reiten sollen«, sagte Rolant und rieb sich die Hände.
Theodard warf dem jungen Mann über die Flammen hinweg einen langen Blick zu. »Ein Blot ist nichts, dem man fernbleibt.«
Arbogast, sein Sohn, streckte sein feuchtes Schuhwerk dem Feuer entgegen, bis die Zehen kribbelten. Sie hatten das Feuer unter den Zweigen einer alten Eiche entzündet, deren breiter Stamm den schneidenden Wind von ihren Rücken fernhielt. Die Eisriesen heulten durch die Baumkronen und türmte hohe Schneewehen auf. Arbogast war zehn Jahre alt und noch nie hatte er einen so frühen Wintereinbruch erlebt.
Sein Vater bewegte die breiten Schultern unter dem Bärenumhang. »Wir haben gefeiert und das Horn kreisen lassen, drei Tage und Nächte lang. Wir haben des Toten gedacht. Die Erinnerung an Volkrad ist lebendig in uns.«
Rolant verzog das Gesicht, statt einer Antwort nahm er das Schwert zur Hand. Er war, obwohl ihm gerade der erste Bart spross, der geschickteste Krieger der Sippe, eine Tatsache, die ihm durchaus bewusst war. Rolant zog langsam blank, das Geräusch des scharfen Metalls übertönte das Knistern der Flammen, und legte das Schwert vor sich. Arbogast beobachtete, wie er mit gleichmäßigen Bewegungen den Wetzstein über die Schneide zog. Die lange, schlanke Klinge war ein Erbstück von Rolants Vater, der sie wiederum von seinem Vater erhalten hatte. Bleicher war fünf Handbreit länger als die Hiebschwerter, die die meisten Sachsen trugen. Arbogast betrachtete die scharfe Schneide, die im Licht des Feuers zu glühen schien und wünschte sich, auch so eine Klinge zu besitzen, wenn er seine Waffenweihe erhielt. Dann durfte sein langes Haar, das ihn immer noch als Jüngling auswies, geschnitten werden als Zeichen, dass er nun für sich selbst mit der Waffe eintreten konnte.
»Volkrad war ein guter Mann!«, fügte sein Vater hinzu und schnitt ein weiteres Stück vom gebratenen Schweinefleisch ab, welches sie als Proviant mitbekommen hatten. Es war Arbogasts erstes Blot gewesen, und er war stolz, dass er zwischen Männern und Frauen am Tisch hatte sitzen dürfen. Immer wenn er an die Reihe kam, nahm er einen Schluck von dem bitteren Bier mit der rötlichen Farbe, bevor er das Trinkhorn an seinen Nebenmann weiterreichte. Die Gesichter der Anwesenden waren ernst und feierlich gewesen, dann wurde die Stimmung ausgelassener und jeder wusste eine lustige Anekdote aus Volkrads Leben zu erzählen. Obwohl Arbogast spürte, wie ihm das Bier in die Glieder fuhr, wurde er immer durstiger und trank weiter, bis er schließlich von der Bank kippte. Als er heute Morgen erwachte, schmerzte sein Kopf, als hätte man ihn mit Knüppeln geschlagen. Es war ein besonderes Bier gewesen, hatte ihn Theodard auf dem Ritt erzählt, während sie immer langsamer durch das stärker werdende Schneetreiben voran kamen, gebraut aus dem Bilsenkraut, und schon so mancher Mann war mit dem Becher in der Hand verstorben.
»Ich sprach mit Sigbert«, sagte Rolant und zog den Wetzstein ein weiteres Mal über Bleichers Schneide.
»Der Sohn von Olaf?«, fragte Theodard kauend.
»Vor einigen Nächten brannten fränkische Krieger seinen Hof nieder.«
»Das hörte ich wohl. Dann blieb er am Leben.«
»Er überlebte, aber seine zwei Söhne nicht.«
Theodard reichte Arbogast ein Stück von dem kalten Schweinefleisch. »Eine schöne Langhalle besaß seine Sippe. Wie viele Männer standen unter Waffen?«
»Genug«, antwortete Rolant, »doch die Franken kamen in großer Zahl und waren gut gerüstet. Die Frauen wurden als Sklaven davon geführt.«
»Sobald der Schnee taut, wird Sigbert seine Sippe gegen die Franken führen wollen. Hat er sein Anliegen schon vorgebracht?«
Rolant nickte und betrachtete aufmerksam die glänzende Klinge, dann zog er den Wetzstein erneut die Schneide entlang. »Er sprach mit vielen Männern und nicht wenige waren bereit, sich seiner Sache anzuschließen.«
Arbogast spülte das Fleisch mit einem Schluck Wasser herunter. Er sah Rolant an, wie sehr es ihm gelüstete, sich an dem Zug gegen die Franken teilzunehmen.
»Die Männer werden im Frühjahr auf den Feldern fehlen«, sprach Theodard. »Der Winter kommt früh dieses Jahr und die Vorräte sind nicht groß.«
»Kein Mann sitzt gerne an fremden Herdfeuern«, antwortete Rolant.
»Und wer tot ist, kann keine Felder mehr bestellen.«
»Sigberts Sippe hat keine Felder mehr zu bestellen …«
»Still!«, rief Arbogast. Er spürte die Blicke der beiden Männer auf sich ruhen. Mit klopfendem Herzen beugte er sich nach vorne und lauschte in den Wald.
»Was ist?«, fragte sein Vater.
Arbogasts suchte die Baumreihen nach einer Bewegung ab. Im Rest des Tageslichtes waren die Umrisse der schwarzen Stämme noch deutlich zu erkennen. »Ich habe etwas gehört.«
Rolant schnaubte. »Der ganze Wald ist voller Geräusche!«
»Nein, ich hörte einen … Schrei!«
Theodard schüttelte den Kopf. »Ich höre nichts.«
Arbogast blickte seinen Vater fest an. »Er war leise, kaum zu hören … «
»Das waren der Wind«, murmelte Rolant und fing wieder an, die Schneide seines Schwertes zu schleifen.
»Rolant!«, sagte sein Vater und der junge Mann hielt inne. »Woher kam der Schrei, Arbogast?«
Er war sich nicht sicher. Die Schneelandschaft verschluckte die Geräusche und die Bäume narrten die Sinne. Aus jedem Schatten schienen ihn Augen anzustarren. »Dort«, sagte Arbogast und zeigte auf einige dichtstehende Fichten.
»Wir werden nachsehen«, antwortete Theodard und erhob sich. Hünenhaft wie er war, erinnerte er in seinem Bärenfellumhang selbst an einen Bären. Arbogast stapfte neben seinem Vater durch den knirschenden Schnee. Hinter sich hörte er Rolant folgen, der sich mit einem Fluch erhoben hatte. Der Wind trieb die Schneeflocken in Arbogasts Gesicht und ließ seine Haut brennen.
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